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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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und sie gibt sich damit zufrieden, auf ungedachte und anonyme Situationen das humanitäre<br />

Geschwätz (…) auszudrücken.« 20 Diese Kritik an <strong>der</strong> neuen Form <strong>der</strong> Ethik besteht in zwei<br />

Argumenten, die einan<strong>der</strong> ergänzen. Es handelt sich um eine unmögliche Verwandtschaft<br />

von Nihilismus und Affirmation <strong>der</strong> bestehenden ordnung. Die »ethische« Ideologie ist insofern<br />

nihilistisch, als sie von dem Gedanken ausgeht, es ließen sich nach dem »Ende <strong>der</strong><br />

Ideologien« keine sinn- und wertvollen Wahrheiten denken, die man zu verwirklichen, anstrebt.<br />

Die Sinnfragen, die die »Rückkehr zur Ethik« motivieren, entpuppen sich als sinnlos,<br />

als Fragen nach <strong>der</strong> Sinnlosigkeit und Fiktionalität je<strong>der</strong> Meistererzählung. Aber gerade diese<br />

nihilistische Skepsis, die in sich ein kritisches Element verbirgt, erweist sich als kompatibel<br />

mit einer resignativen Haltung, die die bestehende ordnung akzeptiert und bejaht: mangels<br />

Alternativen. Die »ethische« Ideologie ist nach Badiou zugleich beides: zum einen nihilistisch<br />

(vom Gedanken <strong>der</strong> Sinn- und Wertlosigkeit ausgehend, begleitet von einer pathologischen<br />

Beschäftigung mit dem Tod und mit <strong>der</strong> Herrschaft über ihn 21 ) und zum an<strong>der</strong>en eine Affirmation<br />

<strong>der</strong> Notwendigkeit des Weltlaufs in seiner konkreten Form: <strong>der</strong> »ökonomischen Notwendigkeit«.<br />

Durch die »ethische« Ideologie wird nach Badiou eine Form von Subjektivität<br />

hervorgerufen, zu <strong>der</strong>en Selbstverständnis es gehört, das Bestehende in seiner »objektiven<br />

Notwendigkeit« zu bejahen.<br />

Ethikdiskurs und <strong>Krise</strong>:<br />

Universalität, Partikularität und das Nicht-Intakt-Werden <strong>der</strong> Grundlagen<br />

Adornos und Badious Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit <strong>der</strong> Ethik als Ausdruck von Ideologie – und<br />

noch signifikanter: ihre jeweilige Zeitdiagnose einer Rückkehr zu Kant – entstammen zwar<br />

unterschiedlichen historischen Momenten, haben aber eine gemeinsame Zeitperspektive.<br />

Adornos kritischer Gedanke über die Gegenwart <strong>der</strong> Ethik wurde in den Jahren nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg entfaltet. 22 Badious Ethik-Buch reagiert, wie oben erwähnt, auf die Umbrüche<br />

Ende <strong>der</strong> 1980er Jahre, auf die <strong>Krise</strong> des Marxismus und die Thesen vom »Ende <strong>der</strong><br />

Ideologie«, die mit dem ethical turn korrelieren. Beide historischen Momente sind insofern<br />

– das ist die gemeinsame Zeitperspektive – Nach-<strong>Krise</strong>n-Zeiten, Zeiten nach verheerenden<br />

<strong>Krise</strong>n, Umbrüchen, die die Geschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong> Menschheit überhaupt, unwi<strong>der</strong>ruflich<br />

verän<strong>der</strong>t haben. War es bloß <strong>der</strong> Zufall, dass nach beiden Umbruchmomenten<br />

eine Sehnsucht nach dem »Guten« und »Richtigen«, ein Bedürfnis nach »Anleitung« zum<br />

richtigen Leben, eine »Rückkehr zur Ethik« zu verzeichnen war?<br />

Die empirische sozialhistorische Frage nach einem möglichen strukturellen Zusammenhang<br />

zwischen den gesellschaftlichen Bedürfnissen nach dem »Guten« und »Richtigen« in<br />

20 Ebenda, S. 49 f.<br />

21 Vgl. ebenda, S. 51 f.<br />

22 Beide Vorlesungen zur Moralphilosophie aus den Jahren 1956/57 und 1963 lassen sich als Vorarbeiten zum dritten<br />

Teil <strong>der</strong> »Negativen Dialektik« beschreiben.<br />

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