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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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ASAF ANGERMANN<br />

Das schlechte Gewissen <strong>der</strong> <strong>Krise</strong><br />

Adorno, Badiou und die »ethische« Ideologie<br />

Die Gegenwart <strong>der</strong> Kritik: Ethik <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> o<strong>der</strong> <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Ethik?<br />

Die Erwartung an Philosophie, den Menschen gerade in <strong>Krise</strong>nzeiten Sinn und Handlungsorientierung<br />

zu bieten, wurde von dieser oft enttäuscht. Stets verbündete sich Philosophie in<br />

ihren unterschiedlichen Facetten mit den herrschenden Geistesströmungen und diente ideologischen<br />

Zwecken und Machtansprüchen, die ihr ursprüngliches Ziel verrieten. Das letzte<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t liefert dafür zahlreiche Beweise. So hat sich – möglicherweise als eine Reaktionen<br />

auf diese wie<strong>der</strong>holende Enttäuschung – in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

beson<strong>der</strong>s diejenige philosophische Disziplin entwickelt, die auf Fragen des »richtigen«<br />

Lebens eine Antwort zu geben beabsichtigt. Der ethical turn, <strong>der</strong> sich vor allem in<br />

den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts ereignete, entsprach in diesem Sinne<br />

dem Bedürfnis, eine neue orientierung im Bezug auf das »Gute« und »Richtige« zu suchen<br />

– nachdem die alten Meistererzählungen scheiterten.<br />

So korrelieren mit den neuen Begrifflichkeiten in den Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

– Gerechtigkeit, Anerkennung, Ethik <strong>der</strong> Verantwortung, Wirtschaftsethik, Bio-Ethik – zugleich<br />

Verän<strong>der</strong>ungen im gesellschaftspolitischen Bereich und nicht zuletzt die entsprechenden<br />

Institutionen: ein nationaler Ethikrat, Ethikkommissionen an staatlichen und sogar privaten,<br />

wirtschaftlichen Einrichtungen. Mit dem ethical turn vollzog sich insofern eine Art<br />

Paradigmenwechsel – nicht nur in <strong>der</strong> Philosophie, son<strong>der</strong>n zunehmend in mehreren wissenschaftlichen<br />

Bereichen, schließlich auch in <strong>der</strong> Gesellschaft. Den Wissenschaften wurde eine<br />

neue Aufgabe zugeschrieben: Sie sollten »ethisch« sein. Dabei hat jedoch das Ethische, das<br />

hier gemeint ist, eine doppelte Bedeutung. Zum einen wird unter »Ethik« Moral verstanden:<br />

»Ethisch sein« heißt demnach, moralisch zu handeln, im eigenen Handeln, in <strong>der</strong> Praxis dem<br />

An<strong>der</strong>en gegenüber gerecht, verantwortlich zu sein; den An<strong>der</strong>en in seiner Differenz anzuerkennen.<br />

Der Kantsche Hintergrund <strong>der</strong> Wende zur Ethik wird beson<strong>der</strong>s deutlich: Der Versuch,<br />

allgemeingültige Handlungsmaximen für die Gegenwart zu formulieren, zeigt sich als<br />

eine Rückkehr zu einer formalen Ethik, die auf Werte und Moralprinzipien zurückgreift, von<br />

konkreten positiven Bestimmungen jedoch absieht. Zum an<strong>der</strong>en implizieren <strong>der</strong> Bedeutungszuwachs<br />

und das verstärkte Interesse für ethische Fragen eine Art Sinnsuche. Ethik wird<br />

in diesem Sinne als Ethos, als Lebensethos verstanden; als ein geistiger Anker im Leben und<br />

in <strong>der</strong> Praxis des Individuums. Die ethische Wende bedeutet in diesem Sinne eine Rückkehr<br />

zur Lehre vom richtigen, guten und würdigen Leben – eine Lehre freilich, die im Laufe des<br />

letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts gewissermaßen vernachlässigt, wenn nicht ganz beschädigt wurde.<br />

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