Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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zugspunkt des Wahren« 22 , welcher <strong>der</strong> oben beschriebenen Verschränkung von Analyse und<br />
Kritik zugrundeliegt?<br />
Kritik und Normativität<br />
In <strong>der</strong> Debatte um die normative Bedeutsamkeit <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie stößt<br />
es auf breite Zustimmung, dass es Marx um Kapitalismuskritik, nicht um Kapitalistenschelte<br />
ging. Sein Hauptwerk heißt denn auch folgerichtig »Das Kapital«, nicht »Die Kapitalistenschweine«.<br />
Kritik im Marxschen Sinne zielt auf Strukturen, auf Beziehungen von Macht,<br />
Herrschaft und Hierarchie zwischen den Menschen – und auf die einzelnen Personen nur insofern,<br />
als »sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten<br />
Klassenverhältnissen und Interessen« 23 . Seine Kritik zielt also nicht auf einzelne schwarze<br />
Schafe o<strong>der</strong> unlautere Individuen. Ihm geht es darum aufzuzeigen, was <strong>der</strong> Kapitalismus<br />
durch seine Strukturprinzipien mit den Menschen macht. Ausbeuterische Verhältnisse stehen<br />
im Zentrum <strong>der</strong> Betrachtung, keine moralische Verurteilung <strong>der</strong> Ausbeutung als gesellschaftliches<br />
Übel. Letztere war zwar durchaus Triebfe<strong>der</strong> seines politischen Wirkens, nicht jedoch<br />
Gegenstand seiner Kritik.<br />
Wie aber kann die Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie kritisch sein, ohne normative Aussagen<br />
über das Analysierte zu treffen? Ist Kritik nicht dringend verbunden mit <strong>der</strong> Frage, wie<br />
etwas sein sollte, was es nicht ist? Warum wir die alltäglichen Zumutungen des Kapitalismus<br />
ablehnen o<strong>der</strong> welche Vorstellungen vom bislang uneingelösten guten Leben wir uns machen?<br />
Und woher können wir wissen, was aus dem Dargestellten für eine kritische Intervention in<br />
die herrschenden Verhältnisse folgt? Kurzum: Was ist bei Marx die Rolle von Kritik in <strong>der</strong><br />
Bewertung <strong>der</strong> durch sie beför<strong>der</strong>ten Erkenntnisse?<br />
Hier scheiden sich nun die Geister, zumindest bei genauerem Hinsehen. Einerseits lässt<br />
sich argumentieren, <strong>der</strong> Marxsche Kritikbegriff sei nicht an einem Gesellschaftsideal o<strong>der</strong><br />
einem normativen Maßstab des vermeintlich unparteilichen Standpunktes orientiert, an dem<br />
dann die Wirklichkeit gemessen wird. Bestimmte ethische Werte o<strong>der</strong> normative Vorstellungen<br />
existierten nicht im luftleeren Raum, sie seien stets an Zeit und ort gebunden, an ganz<br />
spezifisch-konkrete gesellschaftliche Verhältnisse. Der Art und Weise, wie eine bestimmte<br />
Gesellschaft verfasst ist, entsprächen bestimmte plausible o<strong>der</strong> nützliche Normen, Werte und<br />
Moralvorstellungen. So sei eine <strong>Krise</strong> auch nicht Ausdruck davon, dass <strong>der</strong> Kapitalismus gescheitert<br />
ist: Seine Funktionsweise sei nicht darauf ausgerichtet, nachhaltige Entwicklung zu<br />
för<strong>der</strong>n, die diversen Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschen zu erfüllen o<strong>der</strong> allen ein gutes Leben zu<br />
ermöglichen. Man könne dem Kapitalismus folglich nicht vorwerfen, nicht erfüllt zu haben<br />
o<strong>der</strong> daran gescheitert zu sein, was gar nicht sein immanenter Anspruch ist. Begriffen wie<br />
22 Vgl. ebenda, S. 271.<br />
23 Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 16.<br />
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