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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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auf den Einwand, dass sein philosophisches System den Tatsachen wi<strong>der</strong>spreche, selbstbewusst<br />

zu reagieren gewusst haben: »Um so schlimmer für die Tatsachen.« Horkheimer spürt<br />

an den »Tatsachen« und <strong>der</strong> »Realität« den historischen Charakter und die Geschichtlichkeit<br />

dieser sozialen Konstruktionen auf:<br />

»Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich<br />

präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und<br />

den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen organs. Beide sind nicht nur natürlich,<br />

son<strong>der</strong>n durch menschliche Aktivität geformt; das Individuum jedoch erfährt sich selbst bei<br />

<strong>der</strong> Wahrnehmung als aufnehmend und passiv.« 17<br />

Der außerakademische Wahrheitsanspruch <strong>der</strong> kritischen <strong>Theorie</strong> rekurriert daher weniger<br />

auf die zur Anpassung und zum Stillhalten zwingenden »Tatsachen« als vielmehr auf die objektivität<br />

<strong>der</strong> Not und des subjektiven Leidens an den Tatsachen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt<br />

werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist objektivität, die auf dem Subjekt<br />

lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« 18 Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten, »[d]er Begriff <strong>der</strong> Notwendigkeit ist in <strong>der</strong> kritischen <strong>Theorie</strong> selbst ein kritischer;<br />

er setzt den <strong>der</strong> Freiheit voraus, wenn auch nicht als einer existierenden«. 19<br />

Aber auch die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> hat einen Zeit- und ortskern <strong>der</strong> Wahrheit, den es selbstreflexiv<br />

zu erinnern gilt, weil <strong>der</strong> außerakademische und außertheoretische Wahrheitsanspruch<br />

nichts Geringeres als die bewahrte Einheit aus <strong>Theorie</strong> und Praxis ist: In <strong>der</strong> Praxis<br />

muss sich gemäß <strong>der</strong> zweiten Feuerbachthese die <strong>Theorie</strong> als wahr erweisen; 20 die Praxis ist<br />

daher die Aufhebung, gleichsam die Vollendung <strong>der</strong> <strong>Theorie</strong>. Solches Vollendetwerden kann<br />

die <strong>Theorie</strong> an sich selbst nur ermöglichen, wenn sie offen ist, das heißt Bezug zur Praxis<br />

hat (nicht aber wie <strong>der</strong> autoritäre Marxismus-Leninismus diesen mit Krach erzwingt), gleichsam<br />

außerhalb <strong>der</strong> <strong>Theorie</strong> ein politisches Subjekt vorfindet, welches – worauf es eben ankommt<br />

– an <strong>der</strong> <strong>Theorie</strong> sich orientiert und aus freiem Willen die Welt verän<strong>der</strong>t.<br />

Wenn <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> fortleben soll, hat sie sich daher stets zu erneuern und ihre Begriffe,<br />

die »Waffen <strong>der</strong> Kritik« (Marx), an <strong>der</strong> Gegenwart zu schärfen, über das gewusste<br />

Wissen hinauszugehen und gegen das vorherrschende Sicherheitsbedürfnis »gefährliche Erkenntnis«<br />

zu unterbreiten:<br />

»Im Augenblick, wo dem philosophischen Gedanken nichts passieren kann, das heißt, wo<br />

er bereits im Bereich <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung, <strong>der</strong> bloßen Reproduktion angesiedelt ist, in diesem<br />

17 Ebenda, S. 174; vgl. auch bezüglich <strong>der</strong> sinnlichen organe <strong>der</strong> Wahrnehmung Marxens <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Sinne: Karl<br />

Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, drittes Manuskript, in: MEW, Bd. 40, S. 533<br />

bis 546.<br />

18 Adorno: Negative Dialektik, S. 29. – Siehe auch Joachim Perels: Judentum und Gesellschaftskritik. Zu Motiven in<br />

Adornos Denken, in: <strong>der</strong>s. (Hg.): »Leiden beredt werden lassen…« Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos,<br />

Hannover 2006, S. 85-96.<br />

19 Horkheimer: Traditionelle und kritische <strong>Theorie</strong>, S. 204.<br />

20 »In <strong>der</strong> Praxis muß <strong>der</strong> Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.<br />

Der Streit über die Wirklichkeit o<strong>der</strong> Nichtwirklichkeit des Denkens – das von <strong>der</strong> Praxis isoliert ist – ist eine rein<br />

scholastische Frage.« – Marx: Thesen über Feuerbach, S. 5.<br />

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