Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Spannung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die dem Kapitalismus<br />
zugehört wie dem Körper die Schwere, auch nur im mindesten behoben ist und wie reich nur<br />
die Formen sind, in denen sie sich immer wie<strong>der</strong> katastrophisch entlädt.« 13<br />
An jenem »dialektischen Umschlag« ist auch das undialektisch Begriffene noch zu kritisieren:<br />
Die Produktivkräfte sind immer schon zugleich auch Destruktivkräfte. Dies zu<br />
erkennen, wird in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>, im Augenblick des »Umschlagens«, erleichtert. Aber es sind sowohl<br />
vor als auch nach dem Umschlag dieselben Kräfte: einerseits destruktive Produktivkräfte,<br />
weil sie im gleichem Zuge, wie sie die gesellschaftliche Reproduktion auf erweiterter<br />
Stufenleiter gewährleisten, innere und äußere Natur zerstören, das heißt Rohstoffe vernutzen<br />
und Entfremdung hervorrufen. An<strong>der</strong>erseits sind es produktive Destruktionskräfte, weil sie<br />
Zerstörung produzieren, auf Grundlage <strong>der</strong>er eine temporäre <strong>Krise</strong> des Kapitalismus überwunden<br />
und in eine neue Phase <strong>der</strong> Reproduktion und Produktion eingetreten werden kann. 14<br />
Mit <strong>der</strong> »sprunghaft nachlassende[n] Integrationskraft des siegreichen kapitalistischen<br />
Weltsystems« (Türcke) sind auch all die Begleiterscheinungen des Kapitalismus noch virulent,<br />
die von <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> genauer untersucht wurden: etwa die <strong>Krise</strong> des Marxismus<br />
und <strong>der</strong> Arbeiterbewegung als gestörtes Verhältnis von <strong>Theorie</strong> und Praxis, die immanenten<br />
<strong>Krise</strong>n des Kapitalismus, <strong>der</strong> Umschlag <strong>der</strong> Produktiv- in Destruktivkräfte als Rückfall<br />
in die Barbarei, Antisemitismus und Rassismus als pathische Projektionen, Autoritätsfixierungen<br />
als Hürden für die Emanzipation <strong>der</strong> Gesellschaft, Kulturindustrie als Massenbetrug,<br />
Halbbildung als Inwertsetzung <strong>der</strong> Bildung, Entfremdung und Verdinglichung als Beschädigung<br />
<strong>der</strong> Subjektivität, die Eindimensionalisierung von Kritik als Verlust <strong>der</strong> Dialektik, Moralisierung<br />
als unbeholfene Kritik, das heißt als Aufgabe und Kapitulation <strong>der</strong> Kritik am Kapitalismus.<br />
Darüber hinaus kann die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> aus Sackgassen herausführen, die <strong>der</strong> cultural<br />
turn verursacht hat: zum Beispiel den Verlust <strong>der</strong> transformatorischen, kapitalismuskritischen<br />
Perspektive des Feminismus durch die Verengung auf die integrative Perspektive in <strong>der</strong> Geschlechterungleichheit.<br />
15 Dasselbe Phänomen des Verlusts <strong>der</strong> transformatorischen Perspektive<br />
findet sich im Übrigen auch in an<strong>der</strong>en Bereichen, zum Beispiel in <strong>der</strong> Demokratie- und<br />
Staatskritik, und dürfte insgesamt auf den Verlust <strong>der</strong> Dialektik zurückzuführen sein. Als aktuell<br />
erweist sich die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> auch im Umgang mit <strong>der</strong> Natur, mithin in ökologischer<br />
Perspektive, o<strong>der</strong> bezüglich <strong>der</strong> Kritik von kollektiven Identitätskonzepten o<strong>der</strong> auch des<br />
Wissenschaftsbetriebes als (kultur-)industrielle Wissensproduktion.<br />
13 Ebenda, S. 52 f.<br />
14 Nach jedem Krieg folgt ein wirtschaftlicher Aufschwung, nach dem Zweiten Weltkrieg sogar ein »Wirtschafts›wun<strong>der</strong>‹«,<br />
das freilich mit massiven Investitionen im Rahmen des Marshallplanes für ganz Westeuropa angekurbelt<br />
wurde und daher auch ganz einfach erklärbar ist. Wer sich darüber als Wissenschaftler wun<strong>der</strong>t, trägt zur Camouflage<br />
des zynischen Zusammenhangs von Destruktion und Produktion, d. h. von Krieg und Aufschwung bei.<br />
15 Siehe diesbezüglich die Arbeiten von Regina Becker-Schmidt und Gudrun Axeli-Knapp (beide Universität Hannover),<br />
die neben Frigga Haug zu den produktivsten Ausnahmen zu zählen sind.<br />
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