Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Seminaren und dem Umkreis <strong>der</strong> ›<strong>Kritische</strong>n Justiz‹ hervorgegangen war, begab sich ab 1970<br />
auf einen Exodus nach Hannover.« 126<br />
Vereinzelte Marxisten, wie von oertzen selbst, <strong>der</strong> 1963 einen Ruf als ordentlicher Professor<br />
für Politikwissenschaft und 1965 Hans Mayer für Literaturwissenschaften o<strong>der</strong> 1967<br />
<strong>der</strong> Psychoanalytiker Peter Brückner für Psychologie (er hat das Sozialpsychologische Institut<br />
an <strong>der</strong> Universität Hannover gegründet) bekommen hatten, waren schon da. – Von oertzen<br />
wi<strong>der</strong>setzte sich sogar am Anfang seiner ministeriellen Tätigkeit (1970) den Wünschen <strong>der</strong><br />
Fakultät hinsichtlich <strong>der</strong> Berufungspraxis: Die konservative Mehrheit <strong>der</strong> Professoren in <strong>der</strong><br />
Gesamtfakultät hatte Negt für die Nachfolge des Soziologen Christian von Ferber, <strong>der</strong> nach<br />
Bielefeld gegangen ist, nur auf Platz zwei gesetzt, weil diesem <strong>der</strong> »Ruf eines Mentors <strong>der</strong><br />
Studentenbewegung in Frankfurt und eines linksradikalen Kritikers von Sozialdemokratie<br />
und Gewerkschaften vorauseilte«. 127 Von oertzen aber gab Negt den Vorzug.<br />
Es entstand in Hannover sukzessive ein »Schulzusammenhang« <strong>Kritische</strong>r und unorthodox-marxistischer<br />
<strong>Theorie</strong>, die dann von konservativer Seite ähnlich wie die Universität<br />
Bremen als »rote Ka<strong>der</strong>schmiede« verschrien wurde. 128 Der Zusammenhang erstreckte sich<br />
mindestens auf die »vier linken Seminare« (Institute) <strong>der</strong> »Fakultät <strong>der</strong> gefährlichen Möglichkeiten«,<br />
129 die im Zuge <strong>der</strong> Umwandlung zur Volluniversität ausgebaut wurden und von<br />
einem massiven Stellenaufbau profitierten: Soziologie, 130 Sozialpsychologie, 131 Politikwissenschaf<br />
t132 sowie Germanistik 133 und war noch bis zur Emeritierung Negts 2002 und dem<br />
Tod von Jürgen Seifert 2005 erfahrbar. Die nie<strong>der</strong>sächsische Landesregierung hatte nach<br />
Negts Emeritierung den Versuch unternommen, insbeson<strong>der</strong>e das Institut für Soziologie zu<br />
schließen. Dies konnte durch internationale Proteste, die bis zum brasilianischen Präsidenten<br />
Lula da Silva reichten, zunächst verhin<strong>der</strong>t werden. Nicht verhin<strong>der</strong>t werden konnte dagegen<br />
die schleichende Abwicklung, die seitdem mit Stellenstreichung und Zusammenlegung von<br />
Bereichen vorgenommen wurde. So ist das Sozialpsychologische Institut zum »Fach« <strong>der</strong><br />
Soziologie gemacht worden und dümpelt seitdem vor sich hin. Geplant war auch die bisher<br />
noch nicht durchgesetzte Einglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Soziologie in die Politikwissenschaft. Von einer<br />
»Hannoverschen Schule« könnte heute mithin allenfalls noch ein ironischer Treppenwitz<br />
handeln. Als zweite und dritte Generation <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> hatte sich das Etikett freilich<br />
nicht etabliert, wurde auch spätestens 1977 mit <strong>der</strong> »Mescalero-Affaire« 134 und <strong>der</strong> darauf-<br />
126 Claussen: Kann <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> vererbt werden? S. 273.<br />
127 Frank Kuhne: 25 Jahre Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an <strong>der</strong> Universität Hannover. Versuch<br />
einer Chronik und Dokumentation 1968 bis 1993, Hannover 1996, S. 40.<br />
128 Vgl. ebenda, S. 38 ff.<br />
129 Siehe: Die Fakultät <strong>der</strong> gefährlichen Möglichkeiten, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 10./11. Juli 1971.<br />
130 oskar Negt, Ernst Theodor Mohl, Klaus Meschkat, Detlev Claussen, Barbara Duden u. a.<br />
131 Peter Brückner, Regina Becker-Schmidt, Alfred Krovoza, Gudrun Axeli-Knapp, Rolf Pohl.<br />
132 Peter von oertzen, Jürgen Seifert, Michael Vester, Joachim Perels, Gert Schäfer, Michael Buckmiller, Heiko Geiling<br />
u. a.<br />
133 Hans Mayer, Leo Kreutzer, Heinz Brüggemann, Elisabeth Lenk, Florian Vaßen u. a.<br />
134 Vgl. Peter Brückner: Die Mescalero-Affaire. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, Hannover 1981;<br />
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