Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ert und erst in <strong>der</strong> Konkretion über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist. Sie hat also die<br />
Zivilgesellschaft zugleich als Gegner und Verbündeten und keine klare Trennlinie wie zwischen<br />
Freund und Feind. Demzufolge hat sie im Westen einen politischen Kampf und keinen<br />
Bürgerkrieg, Putsch o<strong>der</strong> Staatsstreich zu führen, wenngleich Gramsci diesen langwierigen<br />
politischen Kampf missverständlich mit <strong>der</strong> militärischen Vokabel als »Stellungskrieg« bezeichnet.<br />
Jemand wie Ernst Thälmann, von 1925 bis 1933 Vorsitzen<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kommunistischen Partei<br />
Deutschlands, war genau für <strong>der</strong>artige unproduktive Missverständlichkeiten empfänglich gewesen.<br />
Er hatte den gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923 angeführt und zwei Jahre<br />
später resümiert: »Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, um diese Fehler <strong>der</strong><br />
Führung zu verhin<strong>der</strong>n. So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution am Fehlen einer ihrer<br />
wichtigsten Voraussetzungen: dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.« 60 – Aber ein<br />
Staatsstreich o<strong>der</strong> Putsch, bei dem man einfach ein paar Männer kaltstellt und eine Regierung<br />
stürzt – ob von rechts o<strong>der</strong> links –, ist in einer Zivilgesellschaft kaum möglich. Das wusste<br />
auch <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>:<br />
»Ich meine, die Geschichte macht es uns nicht so bequem, wie es in den bürgerlichen Revolutionen<br />
war, daß es genügte, im Zentrum die offizielle Gewalt zu stürzen und durch ein<br />
paar o<strong>der</strong> ein paar Dutzend neue Männer zu ersetzen. Wir müssen von unten auf arbeiten,<br />
und das entspricht gerade dem Massencharakter unserer Revolution bei den Zielen, die auf<br />
den Grund und Boden <strong>der</strong> gesellschaftlichen Verfassung gehen, das entspricht dem Charakter<br />
<strong>der</strong> heutigen proletarischen Revolution, daß wir die Eroberung <strong>der</strong> politischen Macht nicht<br />
von oben, son<strong>der</strong>n von unten machen müssen.« 61<br />
Die kurzen Wege führen ohnehin sehr selten ins Ziel. oftmals erweisen sie sich als Sackgassen.<br />
– Ganz an<strong>der</strong>s im feudalen Russland, das zwar groß und in dem <strong>der</strong> Zar weit weg<br />
war, aber wo <strong>der</strong> Weg zwischen Individuum und Staat kurz, frontal und osmotisch war: Zwischen<br />
beiden existierte eine semipermeable Membran, das heißt, <strong>der</strong> Staat konnte in den Untertan,<br />
<strong>der</strong> Untertan aber nicht in den Staat eindringen. Daher internalisierte sich keine Norm<br />
ohne die Androhung von Strafe, und eine Revolution konnte nur auf das autokratische System<br />
gerichtet sein, formierte sich entsprechend autoritär, wie sie gegen das autoritäre Machtzentrum<br />
gerichtet war. Mit an<strong>der</strong>en Worten, die gesellschaftlichen Bedingungen <strong>der</strong> Emanzipation<br />
schreiben sich in den Charakter des Wi<strong>der</strong>stands gegen die Bedingungen ein: »Die Unfreien<br />
erstreben die Freiheit, wie <strong>der</strong> bestehende Zustand sie definiert.« 62 Das ist jeweils keine<br />
Frage nach <strong>der</strong> richtigen Strategie, son<strong>der</strong>n eine <strong>der</strong> Notwendigkeit, weshalb man allenfalls<br />
60 Ernst Thälmann: Die Lehren des Hamburger Aufstandes, 23. oktober 1925, in: <strong>der</strong>s.: Ausgewählte Reden und<br />
Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1976, S. 69 ff.<br />
61 <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: Unser Programm und die politische Situation (1918), in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4,<br />
S. 486-511.<br />
62 Hermann Schweppenhäuser: Zur Dialektik <strong>der</strong> Emanzipation, in: <strong>der</strong>s.: Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte<br />
Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, S. 19.<br />
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