Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste<br />
Kette von Festungen und Kasematten befand.« 57<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten: Die zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Westen real existierende<br />
Zivilgesellschaft war am Ende des Krieges ein Hin<strong>der</strong>nis für die Revolution. An<strong>der</strong>s als in<br />
Russland existierte mit <strong>der</strong> Zivilgesellschaft eine Gesamtheit nicht-staatlicher organisationen,<br />
welche als Massenkultur eine kulturelle Hegemonie über die öffentliche Meinung (»Alltagsverstand«)<br />
ausübten. Die Zivilgesellschaft funktionierte als Kitt zwischen Staat und Individuum:<br />
»Zwischen <strong>der</strong> ökonomischen Basis und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem<br />
Zwangsapparat steht die Zivilgesellschaft.« 58<br />
Je weiter sich die Zivilgesellschaft entwickelte, desto freiwilliger geschah die Unterwerfung<br />
<strong>der</strong> Einzelnen unter den kapitalistischen Staat. Die selbständig erscheinende Sphäre <strong>der</strong><br />
bürgerlichen Zivilgesellschaft vermochte eine proletarische Revolution zum Scheitern zu<br />
bringen; auch wenn sie wie<strong>der</strong> verstaatlicht und wie in den 1930er Jahren vom Faschismus<br />
aufgesogen werden konnte, war sie eine Bastion des bürgerlichen Staates, da in ihr Staat und<br />
Individuen gegenseitig voneinan<strong>der</strong> durchdrungen sind. 59 Die Zivilgesellschaft ist zwischen<br />
Staat und Individuum zugleich vermittelndes und vermitteltes Drittes; sie macht aus den Individuen<br />
Staatsbürger und aus dem Staat einen bürgerlichen. Insofern ist eine proletarische<br />
Revolution, die über den Staat läuft, <strong>der</strong>en Ziel es ist, den Staat zu übernehmen, vor klare<br />
Grenzen des Machbaren gesetzt: Sie muss die Zivilgesellschaft aufheben, nicht überwinden<br />
wollen. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Sie muss etwas konkret erobern, das sie seit <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Revolution abstrakt schon längst besitzt. Sie muss zugleich etwas bewahren (die individuellen<br />
Freiheitsrechte), das aber in seiner Formalität den Machtanspruch des Bürgertums untermau-<br />
57 Antonio Gramsci: Gefängnishefte (1926), Bd. 4, Hamburg 1994; vgl. auch Sabine Kebir: Gramscis Zivilgesellschaft.<br />
Alltag, Ökonomie, Kultur, Politik, Hamburg 1991.<br />
58 Gramsci: Gefängnishefte.<br />
59 Der Begriff <strong>der</strong> Zivilgesellschaft, von Antonio Gramsci entlehnt, ist seit mehr als einem Jahrzehnt zum theoretischen<br />
und praktischen Bezugspunkt unter Linken geworden. Diesbezüglich hat eine begriffliche Verschiebung stattgefunden,<br />
die mit einem umfassenden Strukturwandel <strong>der</strong> Öffentlichkeit zu tun hat, aber durchaus auch auf ein produktives<br />
Missverständnis in Bezug auf Gramsci zurückzuführen ist. – Vgl. JS: Zivilgesellschaft und Revolution.<br />
Antonio Gramscis Definition eines Begriffs, <strong>der</strong> zum Modewort wurde, in: ak – analyse & kritik, Zeitung für linke<br />
Debatte und Praxis, Nr. 441 vom 31. August 2000. – Die Zivilgesellschaft bestehe demnach aus einem fortschrittlich-demokratischen<br />
Netzwerk von Institutionen, Einrichtungen und Gruppen. Die Begriffsverschiebung läuft darauf<br />
hinaus, die gesellschaftliche Sphäre gegenüber dem Staat zu politisieren und damit zu verselbständigen, so dass<br />
sich die Gesellschaft vom Staat emanzipieren kann. Die organisationsstruktur <strong>der</strong> repolitisierten Gesellschaft ist<br />
demnach von einem demokratisch-pluralistischen Toleranzverständnis getragen, betont einen universalistischen<br />
Wertekanon und außerdem die Rechtstaatlichkeit als zivilgesellschaftliche Prinzipien. Das Gewaltmonopol soll in<br />
den Händen des Staates bleiben und seine letzte unangetastete Aufgabe sein. Mit dieser Begriffsbestimmung ist<br />
das Konzept <strong>der</strong> Zivilgesellschaft strategisch maßgeblich vom Kommunitarismus beeinflusst, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um von<br />
Hannah Arendt inspiriert wurde. Mit Gramscis ursprünglichen Begriff <strong>der</strong> Zivilgesellschaft hat das weniger zu<br />
tun. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben, dass es heute unmöglich geworden sei, die zivilgesellschaftliche<br />
Sphäre zu verstaatlichen. Solange gesellschaftliche Konflikte in <strong>der</strong> Zivilgesellschaft über den Konsens beigelegt<br />
werden können, verhält sich <strong>der</strong> Staat zur Gesellschaft weitgehend friedlich. Der Schein einer harmonischen Idylle<br />
kann entstehen, <strong>der</strong> die ideologische Funktion eines Quietivs erfüllt. Aber <strong>der</strong> Wolf versteckt sich nur im Schafspelz;<br />
auch <strong>der</strong> »demokratisch« verfasste Staat schreckt nicht vor dem Einsatz brutalster Gewalt gegen die Bevölkerung<br />
zurück, wenn die Herrschaftsverhältnisse ins Wanken geraten.<br />
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