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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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die Fetischformen <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft analytisch zu durchdringen, än<strong>der</strong>t <strong>der</strong>en<br />

materielle Wirkmacht keinesfalls. Wir bewegen uns – einmal zähneknirschend, ein an<strong>der</strong>es<br />

Mal angezogen – in diesen verrückten, zugleich abstoßenden, gewaltvollen, bequemen und<br />

zuweilen auch anziehenden sozialen Verhältnissen. Verhältnisse, die kein Außerhalb zulassen.<br />

Doch auch wenn es kein Jenseits gibt, so handelt es sich nicht um einen totalen Verblendungszusammenhang,<br />

<strong>der</strong> alle Menschen einfängt und einspinnt. Reflexion, Zweifel, Einwand<br />

sind möglich. Marx selbst hätte seine Kritik nicht ausbuchstabieren können, hätte er<br />

nicht kraft geistiger Anstrengung, politischer Erfahrung und wissenschaftlicher Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit an<strong>der</strong>en die Selbstverständlichmachung kapitalistischen Alltags durchbrochen.<br />

Das ist nicht das vermeintliche Privileg des Wissenschaftlers, das kann jede und je<strong>der</strong>. Dennoch<br />

stellt sich die Frage, die an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden kann, inwiefern<br />

mit <strong>der</strong> gedanklichen Durchdringung des Fetischs und <strong>der</strong> Kritik an naturalisierten Gesellschaftsformen<br />

zwischen dem Kritiker, <strong>der</strong> die verkehrten Verhältnisse durchschaut, und dem<br />

vermeintlich Verblendeten, dessen Urteilskraft und Bewusstsein es zu wecken gilt, eine<br />

Asymmetrie produziert wird.<br />

Noch einmal spricht das sich mit Marx auseinan<strong>der</strong>setzende Alltagsbewusstsein:<br />

Tausch, Profit und Konkurrenz erscheinen mir unabän<strong>der</strong>lich, wirksam bereits morgens<br />

beim Aufwachen, noch vor <strong>der</strong> ersten Tasse Kaffee. Kapitalismus ist wie <strong>der</strong> Igel aus dem<br />

Märchen vom Wettlauf mit dem Hasen: Er ist immer schon da. Geld gab es schon immer,<br />

Tausch gab es schon immer, egoistische Menschen gab es immer schon. Ich finde es ganz<br />

normal, dass man ein Fahrrad nicht einfach gegen eine Pizza tauscht, außer man ist dämlich<br />

o<strong>der</strong> verliebt. Wir alle wissen, dass eine Pizza weniger wert als ein Fahrrad ist. Wir<br />

wissen auch, dass die Waren Wert besitzen. Hin und wie<strong>der</strong> haben wir den Eindruck, <strong>der</strong><br />

Preis eines Produkts sei überteuert – o<strong>der</strong> umgekehrt: wir hätten ein Schnäppchen gemacht.<br />

Aber dass wir morgens in <strong>der</strong> Bäckerei selbstverständlich eine bestimmte Summe<br />

Geld für die Brötchen auf die Theke legen, anstatt sie einfach nur abzuholen, das finden<br />

wir ganz natürlich. Manche Menschen meinen, wer nicht arbeitet, <strong>der</strong> solle auch nicht<br />

essen. Ich tausche also Arbeitsleistung gegen Existenzberechtigung und finde die Form<br />

<strong>der</strong> gesellschaftlichen Arbeitsteilung selbstverständlich. Ich tausche die Ausbildung zum<br />

Maurer in einer simulierten Ausbildungswerkstatt, wo wir zu reinen Übungszwecken täglich<br />

Mauern aus Backsteinen errichten müssen, um sie anschließend wie<strong>der</strong> einzureißen,<br />

gegen die Hoffnung auf einen mäßig entlohnten Arbeitsplatz bei einer Baufirma. Ich tausche<br />

eine 46-Stunden-Woche gegen Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft,<br />

die den Tanz um das Goldene Kalb »För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n« nennt.<br />

Sind die ver-rückten Verhältnisse also ein beklagenswerter Zustand, <strong>der</strong> sich hartnäckig <strong>der</strong><br />

gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ung verweigert? Sind die Menschen, die bei den Ver-rücktheiten<br />

mitmachen, etwa böse o<strong>der</strong> bemitleidenswerte Geschöpfe? An<strong>der</strong>s gefragt: Liefert die<br />

Marxsche <strong>Theorie</strong> ethisch-normative Maßstäbe für eine fundierte Gesellschaftskritik? Gibt<br />

es bei ihm gar einen über die Darstellung kapitalistischer Verhältnisse hinausgehenden »Be-<br />

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