Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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schwächere Gruppen zu verfolgen und auf die entsprechende Haßpropaganda anspricht, ist<br />
es viel entscheiden<strong>der</strong>, ob er ein Mensch von bestimmter Charakterstruktur ist, als ob etwa<br />
seine Ansichten konservativ und im üblichen Sinn ›reaktionär‹ sind.« 30<br />
Psychologische Einzeluntersuchungen haben weiter gezeigt, dass die betreffenden autoritären<br />
Charaktere in ihrer Kindheit »gebrochen« wurden. Um überhaupt seelisch weiterleben<br />
zu können, wie<strong>der</strong>holen sie später, was ihnen selbst einmal in ihrer Sozialisation<br />
wi<strong>der</strong>fuhr. Freud spricht in diesem Zusammenhang von einem Wie<strong>der</strong>holungszwang. Eine<br />
so verfestigte psychische Struktur setzt einer Neubestimmung und Verän<strong>der</strong>ung stets Wi<strong>der</strong>stand<br />
entgegen.<br />
Die Gesamtstruktur des autoritären Charakters sei wesentlich bestimmt durch dessen Autoritätsgebundenheit.<br />
»Der für die totalitäre ordnung vorbestimmte Typus sperrt sich gegen<br />
jegliche Selbstbestimmung, die seine falsche Sicherheit gefährden könnte, und verachtet alle<br />
eigentlich subjektiven Kräfte, die geistige Regung, die Phantasie. Er macht es sich leicht,<br />
indem er die Welt nach zweigeteilten Klischees beurteilt.« 31<br />
Diesen Charaktertypus, <strong>der</strong> diktatorische Bewegungen sowie repressive und reaktionäre<br />
Herrschaftsformen produziert und trägt, beschreibt Erich Fromm ausführlich in seinem späteren<br />
Aufsatz »Die autoritäre Persönlichkeit« von 1957. 32 Dieser Charakter ist nicht entwe<strong>der</strong><br />
ein Unterdrücker o<strong>der</strong> ein Unterdrückter, vielmehr vereint er beide Elemente repressiven<br />
Verhaltens. Fromm nennt dies den sadistischen, den aktiv-autoritären, und den masochistischen,<br />
den passiv-autoritären Charakter, <strong>der</strong> in symbiotischem Verhältnis innerhalb und zu<br />
diesen Formen lebt. Ein Beispiel dafür ist nicht nur Hitler, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Familienvater,<br />
<strong>der</strong> erfahrene Erniedrigung an Frau und Kin<strong>der</strong> weitergibt. An an<strong>der</strong>er Stelle verwenden<br />
Horkheimer und Adorno die Metapher »Radfahrertypus«, nach oben buckelnd und nach unten<br />
tretend. Die Aktualität dieser Charakterstruktur liegt auf <strong>der</strong> Hand: sexueller Missbrauch,<br />
Gewalt gegen Kin<strong>der</strong>, ein repressives Alltagsverhalten, das sich sowohl in den unmittelbaren<br />
alltäglichen Sozialbeziehungen abspielt als auch auf kultureller Ebene, etwa auf <strong>der</strong> Ebene<br />
herrschen<strong>der</strong> medial vermittelter Kultur; stets handelt es sich um die Reproduktion erfahrener<br />
Erniedrigung, die sich permanent wie<strong>der</strong>holt.<br />
Fromm unterscheidet – dieser Hinweis erscheint uns wichtig – gerade im Zusammenhang<br />
<strong>der</strong> Kontroverse mit Marcuse zwischen rationaler und irrationaler Autorität. Der Mensch<br />
müsse sich selbst Autorität werden, das heißt ein sittliches Gewissen ausbilden, eine intellektuelle<br />
Überzeugung entwickeln und über eine emotionale Treue verfügen. Dies kennzeichne<br />
einen »gereiften Menschen«, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Lage ist, die Welt mit Liebe und Vernunft zu<br />
begreifen.<br />
30 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Vorurteil und Charakter, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften,<br />
Bd. 8, Frankfurt am Main 1985, S. 64-76; S. 69.<br />
31 Ebenda, S. 71 f.<br />
32 Vgl. Erich Fromm: Die autoritäre Persönlichkeit, in: Deutsche Universitätszeitung, 12. Jg., Heft 9, 1957, S. 3 f.<br />
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