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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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tiker dazu veranlasst haben, etwas aufzuschreiben. Lesarten können bereits am gleichen ort<br />

unterschiedlich ausfallen und im Austausch Spielräume eröffnen, oft genug ausreichend Stoff<br />

für Zoff geben. Solch zündeln<strong>der</strong> Stoff, <strong>der</strong> zu Missverständnissen führt, ist bereits bei Karl<br />

Marx und Friedrich Engels zu entdecken, wenn aus <strong>der</strong> Gleichgültigkeit von <strong>Theorie</strong> und<br />

Praxis bei jenem in <strong>der</strong> elften Feuerbachthese ein Praxisprimat mit einhergehen<strong>der</strong> Herabsetzung<br />

<strong>der</strong> <strong>Theorie</strong> bei Engels durch die schlichte Hinzufügung eines kleinen, nichtig erscheinenden<br />

Wortes herauskommt. 47<br />

Allzu oft wächst aus den Missverständnissen etwas Neues, das Substanz und also Bestand<br />

hat. Aber diese Missverständnisse müssen nicht immer produktiv sein, vor allem nicht, wenn<br />

Macht im Spiel ist. Der Umgang mit Marx dürfte diesbezüglich geradezu ein paradigmatisches<br />

Schlaglicht auf die Art und Weise innertheoretischer und außerakademischer Kämpfe um Deutungshoheit<br />

werfen. In dieses politische Handgemenge war auch die kritische <strong>Theorie</strong> involviert,<br />

<strong>der</strong>en Konstitutionszusammenhang und Entwicklung es an dieser Stelle aufzuhellen gilt.<br />

Dreifach geschichtete <strong>Krise</strong>nkonstellation<br />

Die kritische <strong>Theorie</strong> war von Anbeginn eine <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> in einem dreifach geschichteten<br />

Sinne, das heißt, in ihr verdichtete sich eine mehrdimensionale <strong>Krise</strong>nkonstellation: Sie<br />

reflektierte erstens auf die <strong>Krise</strong> des Kapitalis mus <strong>der</strong> ausgehenden 1920er und 1930er Jahre,<br />

zweitens auf das Scheitern <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und <strong>der</strong> proletarischen Weltrevolution von<br />

1917/18 sowie drittens auf die parallel einhergehende und sich daran anschließende <strong>Krise</strong><br />

des Marxismus, welcher aus sich allein heraus nicht imstande war, das Scheitern in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong><br />

begrifflich zu er fassen und statt dessen in den Sog <strong>der</strong> Verdinglichung geriet, das heißt – von<br />

Moskau ausgehend – zu einer Legitimationswissenschaft transformiert wurde. Die immanente<br />

Verarbeitung <strong>der</strong> Erfahrung dieser dreifach verdichteten <strong>Krise</strong>nkonstellation rief die<br />

kritische <strong>Theorie</strong> auf den Plan.<br />

Kriti sche <strong>Theorie</strong> wird mithin als undogmatischer und selbstreflexiver Marxismus vorgestellt,<br />

dessen Konstitutionsbedingungen die Erfahrung des Schei terns in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> gewesen<br />

war. Nachdem Karl Korsch und Georg Lukács vorgemacht hatten, wie man die materialistische<br />

Geschichtswissen schaft auf den Marxismus selbst anwendet, 48 um diesen zu erneuern,<br />

47 Marx hatte die Thesen, laut Engels, »rasch [in sein Notizbuch; MH] hingeschrieben, absolut nicht für den Druck<br />

bestimmt, aber unschätzbar als das erste Dokument, worin <strong>der</strong> geniale Keim <strong>der</strong> neuen Weltanschauung nie<strong>der</strong>gelegt«<br />

sei. 1888 wurden die Thesen erstmals von Engels als Anhang zu seiner Schrift »Ludwig Feuerbach und <strong>der</strong><br />

Ausgang <strong>der</strong> klassischen deutschen Philosophie« in redigierter Fassung veröffentlicht. In Marxens Notizbuch heißt<br />

es: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verän<strong>der</strong>n.« Engels<br />

redaktionelle Verän<strong>der</strong>ung lautet: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber<br />

darauf an, sie zu verän<strong>der</strong>n.« – Vgl. Marx: Thesen über Feuerbach, S. 5 ff. und S. 533 ff. – Der semantische Unterschied<br />

ist nicht zu gering zu veranschlagen und hat sich im Streit um das Verhältnis von <strong>Theorie</strong> und Praxis als<br />

verheerend ausgenommen. Bestimmte antiintellektualistische Missverständnisse schleppen sich bis heute fort und<br />

sind offenbar nicht mehr zu tilgen.<br />

48 Vgl. Michael Buckmiller: Die Anwendung <strong>der</strong> materialistischen Geschichtsauffassung auf die Geschichte des Marxismus,<br />

in: Karl Korsch: Gesamtausgabe, Bd. 3: Marxismus und Philosophie, hrsg. und eingeleitet von Michael<br />

Buckmiller, Amsterdam 1993.<br />

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