Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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muss, wodurch mit jeglicher nationaler Artikulation das antisemitische (und auch rassistische)<br />
Moment mitgesetzt ist. 56 Es geschieht auf ähnliche Weise, wie auch dem Warentausch nach<br />
Adorno sowohl die bürgerliche Kälte, ohne die Auschwitz nicht möglich gewesen wäre, als<br />
auch das Identitätsprinzip, welches in <strong>der</strong> vollkommenen Identifizierung des Einzelnen mit<br />
<strong>der</strong> Gesamtheit seinen grauenvollen Höhepunkt erreicht, inhärent ist.<br />
Auf diese Weise können im Verhältnis von <strong>Krise</strong> und Antisemitismus annähernd die Voraussetzungen<br />
bestimmt werden, die zu Auschwitz geführt haben. Die Ersetzung gesellschaftlicher<br />
Vermittlung durch unmittelbare Herrschaft bedeutet die Erosion <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Basis <strong>der</strong> Subjektkonstitution. Es verschwindet auch die Bedingung <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Reflexion<br />
auf Gesellschaft durch das Individuum und somit <strong>der</strong> Konstitution als erkenntnistheoretischer<br />
Ausdruck <strong>der</strong> abstrakten Rechtssubjektivität in ihrer dialektischen Verfasstheit. 57<br />
Erkenntnis verwandelt sich in pathische Projektion. »Der Faschismus ist erkenntnistheoretisch<br />
die Auflösung transzendentaler Konstitutionslogik in paranoische Projektionslogik.<br />
(…) Wenn Wahrnehmung und Erkenntnis zur Projektion werden, herrscht Kriegszustand.« 58<br />
Es ist zugleich Rückfall in den Mythos <strong>der</strong> sekundären Natur, in den sekundären Naturzustand<br />
<strong>der</strong> »Rasse«. Die Volksgemeinschaft ist die Herstellung <strong>der</strong> Allgemeinheit über die unmittelbare<br />
Integration in das mythisch-naturhaft erscheinende Kollektiv bei Negation aller Nichtidentität<br />
von Individuum und Allgemeinheit. Diese wird nach außen in die Jüdinnen und<br />
Juden als Gegenrasse projiziert. Auschwitz markiert die vollkommene Ausrichtung und Mobilisierung<br />
einer Gesellschaft zum Massenmord: vollendete Herrschaft als blin<strong>der</strong> Selbstzweck.<br />
Zugleich wird in <strong>der</strong> Tat die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit in totaler Herrschaft<br />
aufgelöst, die Naturbeherrschung schlägt vollständig um und verlässt den Boden je<strong>der</strong> Begreifbarkeit.<br />
Der Antisemitismus, <strong>der</strong> generell als Code verstanden werden kann, »mit dem<br />
die Menschen sich bestätigen, dass Emanzipation we<strong>der</strong> möglich noch wünschenswert ist«, 59<br />
erweist sich als vollendete negative Utopie.<br />
Gegenwärtige Tendenzen autoritärer <strong>Krise</strong>nbearbeitung<br />
Der Zusammenhang von <strong>Krise</strong> und gesellschaftlicher Exklusion wurde als komplexe Konstellation,<br />
aus <strong>der</strong> nicht einzelne Stücke beliebig herausgebrochen werden können, nachgezeichnet.<br />
Antisemitismus und Rassismus müssen im gesellschaftlichen Kontext <strong>der</strong> histo-<br />
56 Das ist das Moment, welches im Deprivationstheorem nicht mehr mitgedacht wird, weshalb jegliche Korrelationen,<br />
die zwischen <strong>Krise</strong> und Exklusion aufgemacht werden, schließlich auf eine Form <strong>der</strong> Rationalisierung des Irrationalen<br />
hinauslaufen. Deutlich wird dies beispielsweise in <strong>der</strong> ersten Folge <strong>der</strong> »deutschen Zustände« von Heitmeyer,<br />
in <strong>der</strong> ein Text als Gegenmaßnahme zu »deutschen Stolz« Patriotismus empfiehlt. – Aribert Hey<strong>der</strong>, Peter Schmidt:<br />
Deutscher Stolz. Patriotismus wäre besser, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände, Frankfurt am Main<br />
2002, S. 71-82.<br />
57 Vgl. Krahl: Konstitution und Klassenkampf, S. 356 ff.<br />
58 Ebenda, S. 357.<br />
59 Claussen: Grenzen <strong>der</strong> Aufklärung, S. 29.<br />
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