Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Verwirklichung verkehrt«. 27 Die Sprungfe<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kritik sei we<strong>der</strong> ein <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft<br />
vorgehaltener Spiegel – seht ihr, eure eigenen Ideale werden nicht eingelöst – noch<br />
eine Rückkehr zu einem ahistorischen, vermeintlich »unverfälschten« Guten o<strong>der</strong> Richtigen.<br />
Vielmehr entwickle sich diese Kritik immer wie<strong>der</strong> von Neuem aus den konkreten gesellschaftlichen<br />
Zuständen selbst. In diesem Sinne seien »analysierendes Unterscheiden und kritisch-normatives<br />
Entscheiden – Analyse und Kritik – zwei Aspekte desselben Prozesses«. 28<br />
Mit an<strong>der</strong>en Worten: »Immanente Kritik tritt dann, wie Marx sagt, ›nicht mit einem vorgefertigten<br />
Ideal <strong>der</strong> Wirklichkeit entgegen‹, sie entnimmt es ihr aber auch nicht einfach, son<strong>der</strong>n<br />
entwickelt dieses Ideal aus dem wi<strong>der</strong>sprüchlichen ›Bewegungsmuster <strong>der</strong> Wirklichkeit‹<br />
selbst.« 29 Diese Argumentation misst <strong>der</strong> Auffassung von Kritik im Marxschen Sinne eine normative<br />
Bedeutsamkeit bei, vor <strong>der</strong>en Hintergrund Kritik darauf ausgerichtet sei, beide Ebenen<br />
– Normen und Verhältnisse – zu transformieren.<br />
Die normative Bedeutsamkeit <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie betont noch stärker<br />
eine Sichtweise, die Analyse, Kritik und Urteil bei Marx als untrennbar verbunden versteht:<br />
obschon Marx Ideale und Werte verleugne, für sie nur Hohn und Spott übrig habe, fälle er<br />
doch kritisch-normative Urteile und erweise sich somit als Urheber eines Diskurses, <strong>der</strong> deutliche<br />
Anzeichen eines starken moralischen Engagements aufweise. 30 Diese Betrachtung übersieht<br />
allerdings, dass viele Begrifflichkeiten, die im alltäglichen Sprachgebrauch wertend gemeint<br />
sind, bei Marx eine ganz eigene Bedeutung haben: Begriffe wie »Ausbeutung«,<br />
»Fetisch« o<strong>der</strong> »Wert« sind in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie keine moralisch aufgeladenen<br />
Urteile, son<strong>der</strong>n analytische Kategorien. Hier gilt es, das Unterscheidungsvermögen<br />
an den Marxschen Begrifflichkeiten selbst zu schärfen: Wenngleich zum Beispiel die Unternehmer<br />
und Grundeigentümer im »Kapital« nicht gerade »in rosigem Licht« 31 erscheinen, so<br />
tun sie dies nur, wie gesagt, insofern sie »Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger<br />
von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen«. 32 Marx will mit seinem theoretischen<br />
Werk den Kapitalismus begrifflich erfassen und durchdringen. Dass er beson<strong>der</strong>s in seinen<br />
politischen und journalistischen Schriften immer wie<strong>der</strong> beißende Kritik am Kapitalismus<br />
formuliert und sich in die gesellschaftlichen Auseinan<strong>der</strong>setzungen zwischen Arbeit und Kapital<br />
auf Seite <strong>der</strong> Lohnabhängigen eingemischt hat, än<strong>der</strong>t daran nichts.<br />
Kritik <strong>der</strong> Kapitalismuskritik<br />
Mit dem Marxschen Kritikansatz lässt sich einer bestimmten Spielart gegenwärtiger Kapitalismuskritik<br />
zuleibe rücken, die die unterschiedlichen Dimensionen alltäglicher Selbstver-<br />
27 Jaeggi: Was ist Ideologiekritik?, S. 274.<br />
28 Ebenda, S. 284.<br />
29 Ebenda, S. 286.<br />
30 Norman Geras: The Controversy About Marx And Justice, in: New Left Review, Nr. 150, März/April 1985, S. 47-85.<br />
31 Marx: Das Kapital. Erster Band, S. 16.<br />
32 Ebenda.<br />
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