Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ANNETTE oHME-REINICKE, MICHAEL WEINGARTEN<br />
<strong>Krise</strong> und Bewusstsein<br />
Zur Aktualität sozialpsychologischer Grundlagen<br />
des <strong>Krise</strong>nbegriffs <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong><br />
Mit »<strong>Krise</strong>« wird ein Zustand o<strong>der</strong> ein Umschlagspunkt bezeichnet, in dem Althergebrachtes<br />
nicht mehr stimmig erscheint und Neues, vielleicht sogar »Besseres« zwar möglich, aber<br />
noch nicht wirklich ist. Grundlegende Denk- und Handlungsmuster geraten ins Wanken, weil<br />
sich entwe<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Bedingungen verän<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> weil gegebene Bedingungen nicht mehr<br />
als ausreichend erachtet werden, um neuen, gewachsenen Wünschen und Bedürfnissen gerecht<br />
zu werden. Zum wichtigsten <strong>Krise</strong>nmerkmal gehört, dass Lösungen für die Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
zwischen bestehenden Bedingungen und Bedürfnissen einerseits, neuen Bedingungen<br />
und Bedürfnissen an<strong>der</strong>erseits (noch) nicht gefunden und handlungsleitend geworden sind.<br />
Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es zunächst <strong>der</strong> Einsicht in die Ursachen und Zusammenhänge<br />
<strong>der</strong> <strong>Krise</strong> sowie <strong>der</strong> eigenen Bedürfnisse und Möglichkeiten hinsichtlich ihrer Lösung:<br />
eines Bewusstseins über die <strong>Krise</strong>nzusammenhänge, das das eigene Handeln reflektiert<br />
und damit politisch-emanzipatorische Praxis ermöglicht.<br />
Dabei stehen diejenigen, die sich aufgrund <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>sprüche und Wi<strong>der</strong>spruchserfahrungen<br />
für Verän<strong>der</strong>ungen und Neues einsetzen, vor dem Problem, gegen das mehr schlecht als<br />
recht funktionierende Alte anarbeiten zu müssen – ohne doch garantieren zu können, dass<br />
das noch nicht wirklich gewordene Neue im Vergleich mit dem bestehenden Alten besser ist.<br />
Genau hierin ist die Beharrungskraft des Bestehenden zu suchen. In seinem Buch »Dämmerung«<br />
hält Max Horkheimer dazu fest:<br />
»Die Verhältnisse sind sehr verschlungen. Eine veraltete, schlecht gewordene Gesellschaftsordnung<br />
erfüllt, wenn auch unter Entfaltung unnötiger Leiden, die Funktionen, das Leben <strong>der</strong><br />
Menschheit auf einem bestimmten Niveau zu erhalten und zu erneuern. Ihre Existenz ist<br />
schlecht, weil eine bessere technisch möglich wäre; sie ist gut, weil sie die reale Form <strong>der</strong><br />
menschlichen Aktivität darstellt und auch die Elemente einer besseren Zukunft einschließt.<br />
Aus diesem dialektischen Sachverhalt geht hervor, dass einerseits in einer solchen Periode<br />
<strong>der</strong> Kampf gegen das Bestehende zugleich als Kampf gegen das Notwendige und Nützliche<br />
erscheint, an<strong>der</strong>erseits die positive Arbeit im Rahmen des Bestehenden zugleich positive Mitwirkung<br />
am Fortbestehen <strong>der</strong> ungerechten ordnung ist. Weil die schlechte Gesellschaft wenn<br />
auch schlecht die Geschäfte <strong>der</strong> Menschheit besorgt, handelt <strong>der</strong>, welcher ihren Bestand gefährdet,<br />
unmittelbar auch gegen die Menschheit, ihr Freund erscheint als ihr Feind. Die<br />
schlechte Seite ist von <strong>der</strong> guten in <strong>der</strong> Realität nicht zu trennen, deshalb muss <strong>der</strong> Kampf<br />
gegen das Veraltete auch als Kampf gegen das Notwendige in Erscheinung treten, und <strong>der</strong><br />
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