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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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gehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute,<br />

genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor<br />

<strong>der</strong> Wahl: entwe<strong>der</strong> Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten<br />

Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof. o<strong>der</strong> Sieg des Sozialismus,<br />

das heißt <strong>der</strong> bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus<br />

und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma <strong>der</strong> Weltgeschichte, ein<br />

Entwe<strong>der</strong>-o<strong>der</strong>, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten<br />

Proletariats. Die Zukunft <strong>der</strong> Kultur und <strong>der</strong> Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat<br />

sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluß in die Waagschale<br />

wirft.« 32<br />

Kritik und <strong>Krise</strong> kulminieren im Krieg: Was die Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie an <strong>der</strong><br />

Logik des Kapitals als <strong>Krise</strong> nachweist, zeigt sich im Krieg konkret als <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> materiellen<br />

Lebensverhältnisse, o<strong>der</strong>, wie <strong>Luxemburg</strong> es bezeichnet, als drohen<strong>der</strong> »Untergang jeglicher<br />

Kultur«.<br />

Spätestens mit dem Ersten Weltkrieg wird die ansonsten nur bürgerlich-ideologisch konstatierte<br />

Kulturkrise zum Thema materialistischer Kritik. So versuchte Georg Lukács dem<br />

lebensphilosophischen Befund einer Kulturkrise eine materialistisch-kritische Wendung zu<br />

geben. Axel Honneth skizziert dies als »romantischen Antikapitalismus«:<br />

»Es ist die Frage nach den kulturellen Bedingungen einer unverzerrten und gelingenden<br />

Vergesellschaftung, die Lukács seit seiner Jugend bewegt; er nimmt die gesellschaftliche Situation<br />

seiner Zeit als einen Zustand <strong>der</strong> sozialen Entfremdung wahr und führt <strong>der</strong>en Entstehung<br />

auf eine <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Kultur zurück.« 33<br />

Diese <strong>Krise</strong> zeigt sich darin, so Lukács in <strong>der</strong> »<strong>Theorie</strong> des Romans« von 1915, dass »die<br />

naturhafte Einheit <strong>der</strong> metaphysischen Sphären (…) für immer zerrissen« ist. 34<br />

<strong>Krise</strong> wird zur Metapher individueller Erfahrung objektiver Macht und subjektiver ohnmacht;<br />

die Mo<strong>der</strong>ne verdichtet diese Erfahrung zur Ideologie im Sinne des notwendig falschen<br />

Bewusstseins. Das bürgerliche Subjekt inkorporiert die <strong>Krise</strong> in <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Persönlichkeit,<br />

in <strong>der</strong> sich die strukturellen Wi<strong>der</strong>sprüche gesellschaftlicher Verhältnisse als<br />

Schicksal und Charakter sedimentieren: »Die <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Vernunft manifestiert sich in <strong>der</strong> <strong>Krise</strong><br />

des Individuums.« 35 Kritik <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> bleibt auf die konstituierenden Momente <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Subjektivität isoliert – als Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft, die Aporien erkennen, aber nicht<br />

32 <strong>Luxemburg</strong>: Die <strong>Krise</strong> <strong>der</strong> Sozialdemokratie, S. 62 f.<br />

33 Axel Honneth: Eine Welt <strong>der</strong> Zerrissenheit. Zur untergründigen Aktualität von Lukács’ Frühwerk, in: <strong>der</strong>s.: Die<br />

zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1990, S. 9. – Falsch ist übrigens<br />

Honneths Behauptung, Lukács hätte seine eigene Position 1962 im nachträglichen Vorwort zur <strong>Theorie</strong> des Romans<br />

einem »romantischen Antikapitalismus« zugeordnet. Vielmehr betont Lukács, dass »beim Verfasser des ›<strong>Theorie</strong><br />

des Romans‹ (…) von solchen Stimmungen nichts zu spüren« ist. – Vgl. das Vorwort in: Georg Lukács: <strong>Theorie</strong><br />

des Romans, Neuwied, Berlin 1971, S. 13 f.<br />

34 Ebenda, S. 29.<br />

35 Max Max Horkheimer: Zur Kritik <strong>der</strong> instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1985, S. 124.<br />

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