Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Der Rekurs auf ihre kritischen Ansatzpunkte – eine Kritik <strong>der</strong> Ethik als Ideologie, in <strong>der</strong> Zeit<br />
nach <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>, gleichzeitig als Reaktion auf und Verdeckung <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> – würde insofern auf<br />
die gegenwärtige <strong>Krise</strong>, in ihrer geistigen, philosophischen und nicht zuletzt ethischen Bedeutung,<br />
ein an<strong>der</strong>es Licht werfen. Im Folgenden möchte ich zunächst Adornos und Badious<br />
Begriffe <strong>der</strong> »ethischen« Ideologie nachzeichnen, um nach ihrer aktuellen Bedeutung zu fragen:<br />
nach <strong>der</strong> Aktualität von Ideologiekritik im Allgemeinen und nach <strong>der</strong> aktuellen Relevanz<br />
einer Kritik des gegenwärtigen »ethischen« Bewusstseins als Ausdruck von Ideologie in Zeiten<br />
<strong>der</strong> <strong>Krise</strong>. Denn das Ethische – die »Rückkehr zur Ethik«, die Adorno und Badiou auf unterschiedliche<br />
Weise kritisieren – lässt sich als <strong>der</strong> geistige Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen<br />
Entwicklung verstehen. Sowohl Adorno wie auch Badiou sehen das Ethische mit<br />
einem gewissen ökonomischen Wohlstand verbunden, die »Rückkehr zur Ethik« beruhe auf<br />
einer konkreten materiellen Grundlage und habe einen sozialhistorischen Ursprung. Die Fragen,<br />
die sich dann angesichts <strong>der</strong> gegenwärtigen <strong>Krise</strong> aufdrängen, beziehen sich genau auf<br />
dieses Verhältnis von Ethik und <strong>Krise</strong>: Was bedeutet die (zunächst nur) ökonomische <strong>Krise</strong><br />
<strong>der</strong> Produktivkräfte für das Ethische, für die ethische Wende? Was könnte das »Ethische« bedeuten,<br />
wenn die sozialökonomischen Grundlagen, auf denen es aufgebaut war, nicht mehr<br />
ganz intakt sind und auf einmal zu zerbröckeln beginnen? Ließe sich dann die Wende zur<br />
Ethik – im akademischen ebenso wie im politischen und wirtschaftlichen Bereich – retrospektiv,<br />
und das heißt: aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>, als Kennzeichen einer Überflussgesellschaft<br />
verstehen und damit ihre »ehrlichen« Bestrebungen bloßlegen? o<strong>der</strong> verstärken gerade <strong>Krise</strong>nzeiten<br />
das ethische Bewusstsein, die gegenseitigen Verbundenheits- und Pflichtgefühle <strong>der</strong><br />
Menschen zueinan<strong>der</strong>?<br />
Adornos Ethikkritik:<br />
Das schlechte Gewissen <strong>der</strong> Moral<br />
Gegen die Ethik – als Lehre vom richtigen Leben – hegte Adorno ein tiefes Misstrauen. Sogar<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Ethik war ihm sehr verdächtig. So trägt seine Vorlesung zur praktischen Philosophie,<br />
<strong>der</strong>en Gegenstand Begriff und Fragen <strong>der</strong> Ethik bildeten, den Titel »Probleme <strong>der</strong><br />
Moralphilosophie«. Diese Vorlesung hat Adorno zweimal – im Winter 1956 und im Sommer<br />
1963 – gehalten. Die spätere Vorlesung wurde 1996 veröffentlicht, die Buchausgabe enthält<br />
in einer Fußnote ein aufschlussreiches Zitat aus <strong>der</strong> früheren Vorlesung: »Der Begriff <strong>der</strong><br />
Ethik ist viel beliebter als Moralphilosophie. Er klingt nicht so rigoristisch, scheint einen höheren,<br />
humaneren Sinn zu haben, er soll nicht einfach die Handlungen <strong>der</strong> Menschen <strong>der</strong> Zu-<br />
gerade vor einer solchen Entschiedenheit in ethischen Angelegenheiten warnt. obwohl diese Kritik an Badious<br />
Ethik überzeugend zu sein scheint, möchte ich in diesem Beitrag gleichzeitig die Nähe zwischen beiden kritischen<br />
Diagnosen einer Wende zur Ethik beleuchten, um sie aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>nfrage zu hinterfragen. – Vgl.<br />
Peter Dews: Uncategorical Imperatives. Adorno, Badiou and the ethical turn, in: Radical Philosophy. A Journal of<br />
Socialist and Feminist Philosophy, No. 111, January/February 2002, S. 33-37.<br />
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