Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Freiheit und Gleichheit, zwei zentrale Ideale <strong>der</strong> bürgerlichen Gesellschaft, läge eine ganz<br />
spezifische Vorstellung zugrunde, die eben kapitalistische Normalität und Normativität ausdrücke:<br />
die Freiheit des Individuums vor dem Staat, die Freiheit des Privateigentums vor <strong>der</strong><br />
Gesellschaft, die Freiheit aus Geldmangel unter <strong>der</strong> Brücke zu schlafen, die formale Gleichheit<br />
<strong>der</strong> Vertragspartner (Arbeit»geber« und Arbeit»nehmer«), die formale Gleichheit <strong>der</strong><br />
Rechtssubjekte vor dem Gericht.<br />
Wenn überhaupt ein normativer Aspekt die Marxsche Kritik beflügle, dann die Erkenntnis,<br />
dass die Art und Weise, wie Kapitalismus verfasst ist, den Interessen <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Menschen<br />
fundamental zuwi<strong>der</strong>laufe. Für diese Erkenntnis und die daraus resultierenden Interessenkonflikte<br />
zwischen Kapital und Arbeit sei aber keine normative Vorstellung jenseits<br />
von Kapitalismus nötig:<br />
»Der Anspruch des Arbeiters, dass seine Arbeitskraft (…) nicht so stark vernutzt wird,<br />
dass es zu einer Verkürzung ihrer ›üblichen Lebensdauer‹ kommt, lässt sich allein damit begründen,<br />
dass sich <strong>der</strong> Arbeiter zu seiner Arbeitskraft als einer Ware verhält. Die Normalität,<br />
die er einklagt, ist ihre normale physische Lebensdauer, d. h. er will aus dieser Ware (ebenso<br />
wie <strong>der</strong> Kapitalist) den maximalen Vorteil ziehen. Der Arbeiter stellt denselben Anspruch<br />
wie ein Pferdebesitzer, <strong>der</strong> ein Pferd für einen Tag vermietet und vom Mieter verlangt, dass<br />
er es nicht an einem Tag zuschanden reitet. Auch für diesen Anspruch muss kein Grundrecht<br />
auf ein unversehrtes Pferdeleben geltend gemacht werden.« 24<br />
Marx selbst hat sich in dieser Hinsicht intellektuell weiterentwickelt. Während er als junger<br />
Student in seiner Dissertation noch schrieb: »Es ist die Kritik, die die einzelne Existenz<br />
am Wesen, die beson<strong>der</strong>e Wirklichkeit an <strong>der</strong> Idee mißt«, 25 postulierte er zusammen mit Engels<br />
schon wenige Jahre später in <strong>der</strong> »Deutschen Ideologie«:<br />
»Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral. (…) Sie stellen nicht die moralische<br />
For<strong>der</strong>ung an die Menschen: Liebet Euch untereinan<strong>der</strong>, seid keine Egoisten pp.; sie wissen<br />
im Gegenteil sehr gut, daß <strong>der</strong> Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten<br />
Verhältnissen notwendige Form <strong>der</strong> Durchsetzung <strong>der</strong> Individuen ist.« 26<br />
An<strong>der</strong>erseits, so die Argumentation, die die Marxsche Analyse für normativ bedeutsam<br />
hält, ließe sich nach Wahrheitskriterien von Kritik fragen, gleichsam nach einem Standpunkt,<br />
<strong>der</strong> die Grundlage <strong>der</strong> Argumentation liefert o<strong>der</strong> aus dem Prozess <strong>der</strong> Analyse heraus zumindest<br />
Urteile zulässt o<strong>der</strong> geradezu herausfor<strong>der</strong>t. Diese Kriterien <strong>der</strong> Kritik seien jedoch kein<br />
extern, das heißt vermeintlich unparteiisch angelegter Maßstab, son<strong>der</strong>n den analysierten Verhältnissen<br />
entspringend und diese zugleich transformierend: Ideale, welche die bürgerliche<br />
Gesellschaft proklamiert, seien nicht einfach uneingelöst, son<strong>der</strong>n im Kapitalismus »in ihrer<br />
24 Heinrich: Die Wissenschaft vom Wert, S. 380 ff.<br />
25 Karl Marx: Anmerkungen zur Doktordissertation, in: MEW, Bd. 40, S. 327 f.<br />
26 Ders., Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik <strong>der</strong> neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten<br />
Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: MEW,<br />
Bd. 3, S. 229.<br />
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