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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Naturwissenschaften und diese <strong>der</strong> Parteidoktrin unterordnen. Derart zugespitzt kann Natur<br />

schließlich »konterrevolutionär« sein. Eine sinnentleerte »Dialektik« wird zur naturalisierten<br />

ordnungs»wissenschaft« über das Ganze. 75<br />

Die marxistische <strong>Theorie</strong> geriet aber schon in Lenins Hand zu einem Mittel, um politische<br />

Ziele zu verfolgen, die mit <strong>der</strong> Marxschen <strong>Theorie</strong> nicht mehr viel zu tun haben. Vergleichsweise<br />

einfach ist es, die Plattitüden des Leninismus hervorzukehren, wenn es denn nur erlaubt<br />

ist, das heißt straffrei bleibt. Aber im Fortgang des Marxismus-Leninismus hatte dieser seine<br />

Plattitüden gegen Kritiker renitent verteidigt, spätestens unter Stalin jene mit dem Gulag bedroht,<br />

was stets ein Armutszeugnis für die Legitimationstheorie ist, wenn sie dies nötig hat. 76<br />

Im Übergang von Lenin zu Stalin wird schließlich aus <strong>der</strong> Diktatur <strong>der</strong> Partei über das Proletariat<br />

eine Diktatur des Parteichefs über die Partei. 77 Der stalinistische Terror erfüllte auch den<br />

Zweck einer schockartigen Mo<strong>der</strong>nisierung mit inhumanen Mitteln, galt aber vor allem den<br />

Wi<strong>der</strong>sachern in <strong>der</strong> Partei, die wie Leo Trotzki schon gegen Lenin eingewandt hatten, dass<br />

sich die objektive Wahrheit in <strong>der</strong> Partei als <strong>der</strong>en Träger auf Fraktionen teilen müsse. Die bedeutendste<br />

Wi<strong>der</strong>sacherin Lenins aber war <strong>Luxemburg</strong>. Ihr berühmtes Diktum, dass die Freiheit<br />

immer die <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkenden sei, 78 lässt sich als Kritik auf den Anspruch des Leninismus,<br />

dass die Partei alleiniger Träger von Wahrheit sei, beziehen und meinte nicht nur die Freiheit<br />

<strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkenden innerhalb <strong>der</strong>selben sozialistischen Partei, son<strong>der</strong>n allgemein aller. 79<br />

In Russland mochte die Leninsche »Partei neuen Typs« angesichts des weit verbreiteten<br />

Analphabetismus und <strong>der</strong> Autoritätsfixiertheit unter <strong>der</strong> Bauernschaft noch eine gewisse Plau-<br />

noch in <strong>der</strong> Entstehungszeit dieser Streitschrift freimütig bekannte, in Fragen <strong>der</strong> Philosophie nicht wirklich kompetent<br />

genug zu sein, als auch die fragmentarische Nachlaßsammlung »Dialektik <strong>der</strong> Natur« des späten Engels (ursprünglich<br />

bezeichnen<strong>der</strong>weise unter dem Titel ›Dialektik und Natur‹ veröffentlicht) kanonisiert und zu Klassiker-<br />

Texten, aus denen man verbindliche Richtlinien für das Denken überhaupt gewinnen zu können glaubt, verdinglicht<br />

werden.« – Negt: Marxismus als Legitimationswissenschaft, S. 9.<br />

75 Vgl. auch Abram Deborin: Materialistische Dialektik und Naturwissenschaft, in: Bucharin, Deborin: Kontroversen<br />

über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 93-134.<br />

76 1931 fiel <strong>der</strong> sowjetische »Staatsphilosoph« Deborin bei Stalin in Ungnade. An<strong>der</strong>s als Deborin, <strong>der</strong> den stalinistischen<br />

Säuberungen nicht zum opfer fiel, nur sein Amt als Chefredakteur <strong>der</strong> Zeitschrift »Unter dem Banner des<br />

Marxismus« verlor, wurde Bucharin, Revolutionär <strong>der</strong> ersten Stunde, im dritten Moskauer Schauprozess 1938 zum<br />

Tode verurteilt und erschossen. – Vgl. auch die absurd anmutenden Selbstbezichtigungen Bucharins aus dem Prozessbericht<br />

<strong>der</strong> Verhandlungen vor Gericht: Letztes Wort des Angeklagten Bucharin, ebenda, S. 264-282.<br />

77 Ernest Mandel bezeichnet den Stalinismus als »sowjetischen Thermidor«, bzw. als »bürokratische Konterrevolution«.<br />

– Vgl. Ernest Mandel: oktober 1917. Staatsstreich o<strong>der</strong> soziale Revolution. Zur Verteidigung <strong>der</strong> oktoberrevolution,<br />

Köln 1992, S. 70. – Wenn man sich auf diese Begrifflichkeit einlässt, dann muss aber auch gesagt werden,<br />

dass diese »bürokratische Konterrevolution« nur deshalb so leicht gelingen konnte, weil <strong>der</strong> Schritt von <strong>der</strong><br />

Diktatur <strong>der</strong> Partei über das Proletariat hin zur Diktatur des Parteichefs über die Partei schon in <strong>der</strong> Rolle von<br />

Lenins Avantgardepartei als missverstandene »Diktatur des Proletariats« (Marx) angelegt gewesen war.<br />

78 »Freiheit nur für die Anhänger <strong>der</strong> Regierung, nur für Mitglie<strong>der</strong> einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein –<br />

ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus <strong>der</strong> ›Gerechtigkeit‹,<br />

son<strong>der</strong>n weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende <strong>der</strong> politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und<br />

seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.« – <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>: Zur russischen Revolution,<br />

in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 359.<br />

79 Vgl. Jörn Schütrumpf: <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong> o<strong>der</strong>: Die Freiheit <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkenden. Wer hat Angst vor <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>?,<br />

Standpunkte 1/2011, <strong>Rosa</strong>-<strong>Luxemburg</strong>-<strong>Stiftung</strong>, S. 2 f., www.rosalux.de [tinyurl.com/6e2xht5], 16.07.2011.<br />

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