Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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ANNE STECKNER<br />
Die Waffen schärfen<br />
Zum Kritikbegriff bei Karl Marx<br />
<strong>Krise</strong> ist ihrer Bedeutung nach ein verdichteter Moment von Unsicherheit, in dem vermeintlich<br />
ewig gültige Gewissheiten infrage gestellt werden, etablierte Diskurse aufbrechen, neue<br />
Sichtweisen und Gewichtungen an Raum gewinnen können. Eine gesellschaftliche <strong>Krise</strong>,<br />
die an die Substanz <strong>der</strong> menschlichen Lebensbedingungen geht, ist keine Frage persönlicher<br />
Bewältigungsstrategien. Sie ist sozial und damit eminent politisch. Der ideologische Lack<br />
des die Individuen preisenden Marktradikalismus ist angekratzt. Glanz und Elend des neoliberalen<br />
Modells lassen sich nicht mehr in die herkömmliche Erklärungsmatrix zwängen, die<br />
gesellschaftlichen Wi<strong>der</strong>sprüche werden zu offensichtlich. In Anlehnung an Rahel Jaeggi<br />
lässt sich feststellen: Die Verhältnisse schreien geradezu nach Kritik. 1 Dieser Umstand hat<br />
seit <strong>der</strong> globalen <strong>Krise</strong>, die 2008 begann, auch <strong>der</strong> Marxschen Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie<br />
einen erneuten Auftrieb beschert, bezeichnen<strong>der</strong>weise mehr in den bürgerlichen Feuilletons<br />
als in den eingeschworenen Zirkeln.<br />
Der Geschäftsführer des Berliner Karl Dietz Verlages kommentierte in <strong>der</strong> »Süddeutschen<br />
Zeitung« die konjunkturelle Popularität des Marxschen Werkes: In <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> wendeten sich<br />
die einen <strong>der</strong> Kirche zu – die an<strong>der</strong>en Marx. 2 Statt dass <strong>der</strong>jenige, welcher Marx zitiert, reflexartig<br />
Spott, Mitleid o<strong>der</strong> Kommunismusverdacht auf sich ziehe, stellten mit einem Mal<br />
auch die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Süddeutsche« und »Die Zeit« die Frage,<br />
wie sich Marxsche Kritik am Kapitalismus buchstabiert. Ein mediales Marx-Revival verquickte<br />
sich mit einer Form <strong>der</strong> Kapitalismuskritik, <strong>der</strong>en Stoßrichtung und Gegenstand allerdings<br />
oft nicht im Marxschen Sinne waren.<br />
Jenseits des medialen Hypes nach den Bedingungen, Inhalten und Zielen einer kritischen<br />
<strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> zu fragen, provoziert die Überlegung, auf welche Weise »kritisch« die<br />
Marxsche und die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> einan<strong>der</strong> bereichern können und welches Verständnis von<br />
Kritik <strong>der</strong> jeweiligen Intervention in die herrschenden gesellschaftlichen Zustände zugrunde<br />
liegt. Im Folgenden wird es um den Marxschen Begriff von Kritik gehen, <strong>der</strong> von den in <strong>der</strong><br />
Tradition <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> stehenden Betrachtungsweisen differiert, wenngleich ein<br />
Strang ihrer theoretischen Inspiration von Marx ausgeht. obschon dieser Strang beson<strong>der</strong>s<br />
den Marxschen Entfremdungsbegriff <strong>der</strong> »Pariser Manuskripte« von 1844 fruchtbar macht<br />
und ihn einer traditionalistisch-arbeiterbewegten Marxinterpretation entgegenstellt, beziehe<br />
1 Vgl. Rahel Jaeggi: Was ist Ideologiekritik?, in: <strong>der</strong>s.: Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt am Main 2009,<br />
S. 271.<br />
2 Vgl. Das Kapital – Die Wie<strong>der</strong>entdeckung des Herrn Marx, in: SZ vom 15. oktober 2008.<br />
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