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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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sagen kann, dass es falsche orte und Unzeiten für sozialistisch motivierte Revolutionen gibt,<br />

wenn sie denn nicht nur ortsbezogenes Elend überwinden, son<strong>der</strong>n nicht weniger als das<br />

Ende <strong>der</strong> Geschichte einleiten sollen.<br />

Mit eherner Notwendigkeit vollzieht sich keine Revolution; wohl aber gibt es historische<br />

Konstellationen, die eine revolutionäre Situation wahrscheinlicher machen als an<strong>der</strong>e. Nur<br />

sind das nicht zwingend die orte, die für den Sozialismus am meisten reif geworden sind.<br />

ohne großartiges Zutun politischer Subjekte kommt nichts in Gang. 63 Was auch immer in<br />

Gang kommt, ist allerdings selten bewusst intendiert. Geschichte wird zwar von den Menschen<br />

gemacht, aber nicht alle Menschen sind an <strong>der</strong> Geschichte gleichermaßen beteiligt.<br />

Für Hegel waren einzelne »historische Individuen« wie Napoléon o<strong>der</strong> Caesar Gefäße, gleichsam<br />

Marionetten des »Weltgeistes«, <strong>der</strong> sich ihrer bedient, um sich geschichtlich zu entäußern.<br />

Aber auch Caesar hatte im Krieg gegen die Gallier wenigstens einen Koch dabei gehabt,<br />

ohne den er auf dem Schlachtfeld vor Hunger alsbald sein Schwert nicht mehr hätte heben<br />

können. 64 Wenn auch <strong>der</strong> Feldherr <strong>der</strong> größere »Strippenzieher« als dessen Koch ist, so ist<br />

die geschichtliche Betätigung eine Frage <strong>der</strong> Macht. Der Koch hätte Caesar auch vergiften<br />

können; dann hätte dieser nicht, aber vielleicht ein An<strong>der</strong>er, die Gallier besiegt. Geschichte<br />

ist jedenfalls nicht auf den Willen Einzelner zurückzuführen. In den meisten Fällen opponiert<br />

gegen den Willen ein Gegenwille, gegen die Macht eine Gegenmacht, so dass Geschichte,<br />

in Hegels Worten, ironisch und listig, jedenfalls nicht gradlinig verläuft; es stoßen Entwicklungslinien<br />

aufeinan<strong>der</strong>, Verläufe brechen ab, werden umgelenkt und steuern auf an<strong>der</strong>e Zielbestimmungen<br />

zu, je nachdem, wo, wann und wer sich durchsetzt.<br />

Die theoretische Einsicht in die »richtige« politische Praxis soll, wenn sie schon nicht die<br />

Praxis anleiten kann, ihr doch wenigstens orientierung bieten können. So jedenfalls dachten<br />

zu Beginn <strong>der</strong> Weimarer Republik viele linksgerichtete, marxistisch orientierte Intellektuelle.<br />

Zu ihnen zählte auch <strong>der</strong> Millionärssohn Felix Weil, <strong>der</strong> sich mit dem Gedanken trug, ein<br />

beträchtliches Vermögen für die Gründung und Einrichtung eines Instituts für Marxismus zu<br />

stiften. Das Institut sollte die Geschichte und Erfahrungen <strong>der</strong> Arbeiterbewegung erforschen.<br />

Weil spendete das Vermögen in <strong>der</strong> Hoffnung, dass dieses Institut in absehbarer Zeit einer<br />

siegreichen Revolution in Deutschland: einem deutschen Rätestaat übergeben werden könne.<br />

Aus <strong>der</strong> Retrospektive gesehen, handelte es sich allerdings nur um ein sehr schmales Zeitfenster<br />

für eine erfolgreiche Revolution, die in Deutschland auf halber Strecke in Richtung<br />

einer sozialistischen Republik stehen blieb. Die Revolution führte zu einer demokratischen<br />

Republik. Lenin gelangte deshalb zu <strong>der</strong> Ansicht, dass die organisierte Arbeiterbewegung in<br />

Deutschland die proletarische Weltrevolution aus den Augen verliert und sich mit sozialdemokratischen<br />

Reformen begnügen wird. Der revisionistische, reformistische Marxismus von<br />

63 Vgl. Marcus Hawel: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite <strong>der</strong> kritischen <strong>Theorie</strong>, in: ,<br />

<strong>der</strong>s., Gregor Kritidis (Hg.): Aufschrei <strong>der</strong> Utopie. Möglichkeiten einer an<strong>der</strong>en Welt, Hannover 2006, S. 98-116;<br />

106 ff.; vgl. auch Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main 1959, S. 168 f.<br />

64 Vgl. Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters (1928), in: <strong>der</strong>s.: Kalen<strong>der</strong>geschichten, Hamburg 1953, S. 74.<br />

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