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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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<strong>Krise</strong> des Marxismus<br />

Pfingsten 1923, ein Jahr, bevor das zu gründende Institut für Marxismus seine Arbeit aufnahm,<br />

organisierte Felix Weil, <strong>der</strong> Fabrikantensohn, zusammen mit Korsch in <strong>der</strong> Nähe von<br />

Ilmenau eine »Marxistische Arbeitswoche«. An dieser nahmen neben Lukács auch Karl August<br />

und Rose Wittfogel, Friedrich Pollock und an<strong>der</strong>e teil. Viele <strong>der</strong> Teilnehmer hatten später<br />

mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung auf das Engste zu tun. Die Diskutanten <strong>der</strong><br />

Arbeitswoche verband die Hoffnung auf ein selbstbewusst handelndes Proletariat, das nicht<br />

auf sozialdemokratische Reformen (Kautsky, Bernstein), nicht auf Evolution setzt und sich<br />

auch <strong>der</strong> Bolschewisierung wi<strong>der</strong>setzt, das heißt an <strong>der</strong> Revolution festhält. Theoretischer<br />

Bezugsrahmen war <strong>der</strong> westliche Marxismus, gleichsam die materialistische Geschichtsauffassung,<br />

in <strong>der</strong> die Hegelsche Dialektik noch eine tragende Rolle spielt – im Gegensatz zum<br />

Marxismus-Leninismus, in dem diese als idealistisch gebrandmarkt und entsprechend aus<br />

<strong>der</strong> Marxschen <strong>Theorie</strong> entfernt und wodurch die »Dialektik« bezeichnen<strong>der</strong>weise sinnentleert<br />

wird. Marx hatte die Hegelsche Dialektik lediglich »vom Kopf auf die Füße« gestellt,<br />

nicht aber enthauptet; sie ist in <strong>der</strong> Marxschen Philosophie mithin nicht erledigt, daher war<br />

sie für die westlichen Marxisten ein Vehikel, vermöge dessen die materialistische Dialektik<br />

wie<strong>der</strong>zubeleben versucht wurde. Man war sich dessen sehr wohl bewusst, dass <strong>der</strong> westliche<br />

Marxismus gegenüber <strong>der</strong> autoritären Auslegung des Marxismus, des Marxismus-Leninismus,<br />

ins Hintertreffen zu geraten drohte. 85 Die <strong>Theorie</strong> und Praxis <strong>der</strong> Arbeiterbewegung<br />

musste also in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Tendenz zur Autoritarisierung erneuert werden,<br />

weil nach den gescheiterten Revolutionen in Westeuropa nicht bedingungslos an die<br />

Marxsche <strong>Theorie</strong> und ihren Geist <strong>der</strong> Revolution angeknüpft werden konnte. – Dies galt<br />

noch einmal umso mehr im folgenden Jahrzehnt des heraufziehenden Faschismus und <strong>der</strong><br />

Zerschlagung <strong>der</strong> organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland.<br />

Die nach <strong>der</strong> Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des Versagens <strong>der</strong> Sozialdemokratie<br />

<strong>der</strong> Zweiten Internationale 1923 erschienenen Arbeiten »Marxismus und Philosophie« von<br />

Korsch und »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Lukács sind die allerersten Versuche<br />

<strong>der</strong> methodischen Selbstreflexion im Rahmen <strong>der</strong> Marxistischen <strong>Theorie</strong>. 86 Der Inhalt <strong>der</strong><br />

beiden Schriften war auch Gegenstand <strong>der</strong> Diskussion während <strong>der</strong> marxistischen Arbeitswoche;<br />

sie zählen heute noch immer zu den bedeutendsten Werken des kritischen »Neomarxismus«;<br />

in <strong>der</strong> Tradition des westlichen Marxismus stehend, begründen sie methodisch den<br />

sogenannten selbstreflexiven Marxismus und dient Horkheimer als Grundlage für die methodische,<br />

programmatische Gründung <strong>der</strong> kritischen <strong>Theorie</strong>.<br />

Korsch und Lukács ging es ausdrücklich um die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> materialistischen<br />

Dialektik in Gestalt einer aktualisierten Marxschen <strong>Theorie</strong>, das heißt, sie wandten die mate-<br />

85 Wie diese Autoritarisierung in <strong>Theorie</strong> und Praxis <strong>der</strong> Arbeiterbewegung tatsächlich von sich gegangen ist, lässt<br />

sich sehr gut nachvollziehen bei Leineweber: Intellektuelle Arbeit und kritische <strong>Theorie</strong>.<br />

86 Vgl. Karl Korsch: Marxismus und Philosophie (1923), in: <strong>der</strong>s.: Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. und eingeleitet v.<br />

Michael Buckmiller, Amsterdam 1993; Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein.<br />

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