Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Noch einmal Brückner:<br />
»Die industriellen Gesellschaften sind seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t dadurch charakterisiert,<br />
dass in den neu entstehenden Massenbevölkerungen – und ›Bevölkerungen‹ – eine zureichende<br />
ordnung und Stabilität des Systems <strong>der</strong> Gesellschaft und des Staates nur gewährleistet<br />
sein kann, wenn die Funktionen und Gefüge <strong>der</strong> Person, wenn ›Psyche‹: Bewusstsein, Gefühl,<br />
Affekt, Triebgewohnheit, Körperlichkeit, Denkneigungen und -formen <strong>der</strong> Individuen in die<br />
Funktionen und Gefüge des Systems partiell einbezogen sind. Es sind Momente des menschlichen<br />
Soseins, erst im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t als mögliche Gegenstände einer Erfahrungswissenschaft<br />
entdeckt, die gleichsam als Einbauteil mit an<strong>der</strong>en objektiven Trägern <strong>der</strong> Produktion/Reproduktion<br />
funktionell verzahnt sind. Dies setzt auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Individuen die<br />
Internalisierung von moralischen Werten, Normen, Standards voraus. (Später, um die Mitte<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, als scheinbar niemand mehr Macht ausübt, dann Flexibilität – im Sinne<br />
<strong>der</strong> ›Außenlenkung‹, <strong>der</strong> Steuerung durch externe Stimuli.)« 26<br />
Marx schreibt:<br />
»Der letzte Grund aller wirklichen <strong>Krise</strong>n bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung<br />
<strong>der</strong> Massen gegenüber dem Trieb <strong>der</strong> kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte<br />
so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
ihre Grenze bilde.« 27<br />
Kurzum: Die Mo<strong>der</strong>ne hat im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t mit <strong>der</strong> Massenkultur einen Ausdruckszusammenhang<br />
geschaffen, <strong>der</strong> die »absolute Konsumtionsfähigkeit« tatsächlich als »Grenze«<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft erscheinen lässt. Mit dem Imperialismus wird diese Grenze nunmehr nicht<br />
nur ökonomisch fiktiv verschoben, son<strong>der</strong>n national-politisch: Die <strong>Krise</strong> mündet im Krieg,<br />
schließlich im Weltkrieg. Erst jetzt zeigt sich die perfide Dialektik <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, wonach offenbar<br />
die Gesellschaft gerade aus <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> in <strong>der</strong> äußersten Gewalt, welche das Leben materiell<br />
und ideell infrage stellt, ihre Stabilität bezieht, die Kultur also als Kitt funktioniert –<br />
und nicht als Sprengstoff, was gleichwohl ebenfalls ihr Potential wäre.<br />
III<br />
»Von innen strahlt kein Licht mehr in die Welt <strong>der</strong><br />
Geschehnisse und in ihre seelenfremde Verschlungenheit.«<br />
Georg Lukács 28<br />
Von <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> ist meistens die Rede, wenn von <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> nicht geredet wird. Ebenso ist es<br />
mit <strong>der</strong> Kritik. »Empört Euch!« wird am lautesten proklamiert, wenn sich kaum jemand im<br />
Sinne radikaler und reflektierter Kritik empört. Alles hat seine <strong>Krise</strong>, alle üben sich in Kritik.<br />
Die provokative und provozierende Kraft von Kritik und <strong>Krise</strong> ist gleichermaßen verbraucht,<br />
26 Brückner: Wie entsteht die kulturelle Hegemonie des Bürgertums?, S. 153.<br />
27 Marx: Das Kapital, Dritter Band, S. 201.<br />
28 Georg Lukács: <strong>Theorie</strong> des Romans, Neuwied, Berlin 1971, S. 28.<br />
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