Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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fundenes Lebensgefühl bezeichnen. Für die proletarischen Massen zeigen sich die Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
des Kapitals unter den ohnehin unwirtlichen Lebensbedingungen allerdings weitaus<br />
unmittelbarer: als Armut, Hunger und Elend (ein drastisches Bild davon liefert Engels mit<br />
seinem Bericht über »Die Lage <strong>der</strong> arbeitenden Klasse in England« von 1844/45). Das heißt,<br />
die Systemkrise hatte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t als Signatur <strong>der</strong> unterschiedlichen, von den Produktionsverhältnissen<br />
abhängigen materiellen Lebensbedingungen Klassencharakter; es entsprach<br />
dem Klasseninteresse des Proletariats, sich nicht – wie das Bürgertum – um eine systemimmanente<br />
Lösung <strong>der</strong> <strong>Krise</strong> zu bemühen, son<strong>der</strong>n die <strong>Krise</strong>nverhältnisse abzuschaffen<br />
und also das System aufzuheben. Überlagert wurde <strong>der</strong> Klassencharakter durch die reale wie<br />
ideologische Formierung einer allgemeinen Lebensweise, die ihren Ausdruck maßgeblich in<br />
Politik und Kultur fand. Der Klassenwi<strong>der</strong>spruch konnte so in die gesellschaftliche Ambivalenz<br />
von Individuum und Masse verschoben werden. Ganz entgegen <strong>der</strong> kritischen Analyse<br />
von Marx, wonach die <strong>Krise</strong> die spezifische Logik <strong>der</strong> kapitalistischen Gesellschaft kennzeichnet,<br />
gelang es im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t über die realideologischen Formierungen von Politik,<br />
Kultur o<strong>der</strong> auch Nation sowie Sport, Industrie, Freizeit kollektive Identität einer Bevölkerung<br />
herzustellen, für die Gesellschaft als grundsätzlich wi<strong>der</strong>spruchsfreie und Sicherheit bietende<br />
Lebenswelt erschien. <strong>Krise</strong>n erschienen jetzt konkret o<strong>der</strong> pseudokonkret als chaotische und<br />
schicksalsmäßige Anomalien o<strong>der</strong> Funktionsstörungen disparater gesellschaftlicher Lebensbereiche:<br />
als Wirtschaftskrisen, als Staatskrisen o<strong>der</strong> als Kulturkrisen, als je persönliche biografisch-individuelle<br />
<strong>Krise</strong>n (so die heutige Rede von <strong>der</strong> midlife crisis) o<strong>der</strong> allgemein als<br />
»Sinnkrisen«, als Verlust o<strong>der</strong> Irritation singulärer o<strong>der</strong> kollektiver Identifikationsmuster.<br />
Peter Brückner schreibt:<br />
»In <strong>der</strong> Phase <strong>der</strong> ›<strong>Krise</strong>‹, des progredient verlaufenden Umwälzungsprozesses, steht die<br />
Existenz <strong>der</strong> kleinen Leute und des ›Mittelstands‹ plötzlich auf dem Spiel (Hunger, Arbeitslosigkeit,<br />
Krieg), eine sozialpathologische Situation, in <strong>der</strong> lebensgeschichtlich erworbene<br />
Stabilitätsfaktoren dramatisch versagen. Wenn sich das Leben und die orientierung in ihm<br />
entstrukturiert, und wenn die revolutionäre Absicht <strong>der</strong> Massen: sich selbst die materiellen<br />
Bedingungen ihres Lebens anzueignen, von den herrschenden Klassen erneut verboten, zerschlagen,<br />
verfolgt, um-interpretiert und teilweise ›integriert‹ wird, wie nach 1790, werden<br />
psychische Umrüstungen großen Stils revolutionär möglich und machbar. Die kulturelle Hegemonie<br />
<strong>der</strong> herrschenden Klassen entsteht – wie schon gesagt: als kulturstaatliche Ergänzung<br />
des Gewaltstaats.« 24<br />
Gerhard Stapelfeldt schreibt: »Indem <strong>der</strong> Zwang <strong>der</strong> Verhältnisse verinnerlicht wird, vermag<br />
das Individuum strukturelle <strong>Krise</strong>n nur als individuelle Defizite zu erkennen.« 25<br />
24 Peter Brückner: Wie entsteht die kulturelle Hegemonie des Bürgertums?, in: <strong>der</strong>s.: Psychologie und Geschichte,<br />
Berlin 1982, S. 121 f.<br />
25 Gerhard Stapelfeldt: <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft und empirische Sozialforschung. Zur Logik <strong>der</strong> Aufklärung des Unbewussten,<br />
Freiburg 2004, S. 180.<br />
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