Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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genuin als Marxsche <strong>Theorie</strong> verstand, aber durch die Anreicherung mit psychoanalytisch<br />
orientierter Sozialpsychologie so nicht mehr heißen sollte. Die materialistische Geschichtsauffassung<br />
konnte jedenfalls fortan nicht mehr ohne die Psychoanalyse als »Hilfswissenschaft<br />
<strong>der</strong> Geschichte« 99 auskommen. Denn die Frage, warum die Menschen ihren Henkern den<br />
Weg zur Macht ebnen, wäre mit einem Verständnis von Ideologie als gesellschaftlich »notwendig<br />
falsches Bewusstsein« (Marx) unzureichend und zudem zynisch beantwortet. Das<br />
falsche Bewusstsein kann in dieser Frage nicht notwendig sein. Vielmehr, so Horkheimers<br />
Antwort, setze sich <strong>der</strong> Faschismus »durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik«<br />
100 durch, die – und weniger das Kapitalverhältnis, <strong>der</strong>en Gesetzmäßigkeiten sich mit<br />
»eherner Notwendigkeit« vollzögen – für das falsche Bewusstsein verantwortlich ist.<br />
Zweite Verschiebung:<br />
Entteleologisierung <strong>der</strong> Geschichte<br />
Horkheimer zieht aus dieser Erwägung den Schluss, dass jede Form von Geschichtsteleologie<br />
und Automatismus in <strong>der</strong> Geschichtsphilosophie o<strong>der</strong> Gesellschaftstheorie nicht mehr aufrechtzuerhalten<br />
sei. Es wäre auch zynisch, wenn man in neohegelianischer Manier schlussfolgern<br />
müsste, dass <strong>der</strong> Faschismus o<strong>der</strong> gar Auschwitz Resultate <strong>der</strong> Entäußerung des Weltgeistes,<br />
jedenfalls im Telos (Ziel, Zweck) <strong>der</strong> Geschichte eingeschrieben seien. – Der<br />
faschistische Staat war nicht die »Wirklichkeit <strong>der</strong> sittlichen Idee«. 101<br />
All das bedeutet aber nicht, dass das Telos preiszugeben sei. Die kritische <strong>Theorie</strong> Horkheimers<br />
bleibt wie die Marxsche grundsätzlich normativ. Das Telos müsse allerdings aus <strong>der</strong><br />
Geschichte in die Geschichtswissenschaft verlegt werden. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Die Geschichte<br />
wird entteleologisiert, die Geschichtswissenschaft aber bleibt normativ. Der wissenschaftliche<br />
Umgang mit Geschichte wird mithin politisch, wodurch die Geschichtswissenschaft explizit<br />
zur Gegenwartsdisziplin wird: Es gibt nur so viel Sinn in <strong>der</strong> Geschichte, wie von den Men-<br />
99 Vgl. Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: <strong>der</strong>s.: GS, Bd. 3, Frankfurt am Main 1988, S. 48<br />
bis 69; S. 57.<br />
100 Ebenda, S. 59. – Weitere begriffliche Verschiebungen am Ideologiebegriff nimmt später Adorno vor. – Vgl. Theodor<br />
W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre« (1954), in: <strong>der</strong>s.: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main<br />
1995.<br />
101 Hegel: Grundlinien <strong>der</strong> Philosophie des Rechts, § 257, S. 398. – Hegels System <strong>der</strong> Sittlichkeit vermittelnden<br />
Institutionen für die im Faschismus gleichgeschalteten Institutionen und völkische Moral in Anschlag zu bringen,<br />
hieße Hegels Philosophie faschistisch zu instrumentalisieren. Gegen diesen gemeingefährlichen Neohegelianismus<br />
von rechts ist Hegel in Schutz zu nehmen. Marcuse hat 1941 mit »Vernunft und Revolution« umfassend<br />
dargelegt, »daß Hegels Grundbegriffe denjenigen Tendenzen feindselig gegenüberstehen, die zu faschistischer<br />
<strong>Theorie</strong> und Praxis geführt haben«. – Marcuse: Vernunft und Revolution, S. 11. – Franz Neumann macht deutlich,<br />
dass das Dritte Reich von Anbeginn einer Zerstörung <strong>der</strong> Rechtssphäre gleichgekommen ist und folglich <strong>der</strong><br />
NS-Staat ein Unrechtsstaat gewesen sei. – Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus<br />
1933–1944 (1942–44), hrsg. v. Gert Schäfer, Köln 1977. – Diese Position wird von Ernst Fraenkel allerdings<br />
differenzierter o<strong>der</strong> auch weniger radikal gesehen, <strong>der</strong> zwischen zwei staatlichen Sphären im Nationalsozialismus<br />
unterscheidet, die wenigstens bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges parallel als Doppelstruktur<br />
existierten: Normen- und Maßnahmenstaat; während in diesem Willkür vorherrschte, sei in jenem die rechtliche<br />
Sphäre – freilich nur für die »Volksgemeinschaft« – noch weitgehend intakt geblieben. – Vgl. Ernst Fraenkel:<br />
Der Doppelstaat (1941), Frankfurt am Main 1974.<br />
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