Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Sismondis Vorwegnahme des Wohlfahrtstaates<br />
Sismondi gehört zu den ersten Kritikern an Ricardo und Say. Sein Ausgangspunkt unterscheidet<br />
sich grundlegend von dem Ricardos. Seine »Neuen Grundsätze <strong>der</strong> Politischen Ökonomie«,<br />
erstmals 1819 erschienen, entwickelt er ausdrücklich im Gegensatz zu herrschenden<br />
ökonomischen Lehrmeinungen. Einer seiner Bezugspunkte dafür sind die <strong>Krise</strong>n. Sismondi<br />
hebt hervor, dass die Anwendung <strong>der</strong> <strong>Theorie</strong>n Ricardos und seiner Schule bei dem Versuch,<br />
die Reichen reicher zu machen, die Armen »zu größerer Armut, Abhängigkeit und Bedürftigkeit<br />
verdammten« 25 . Er setzt an gleicher Stelle fort: »Gänzlich unerwartete <strong>Krise</strong>n im Handel<br />
folgten einan<strong>der</strong>; die Fortschritte von Industrie und Reichtumsvermehrung haben die Kapitalisten,<br />
die diesen Überfluß schufen, nicht vor ungeheurer Not bewahrt (…).« Zu den<br />
Ursachen hält er fest:<br />
»Die allgemeine Konkurrenz bzw. das Streben, stets mehr o<strong>der</strong> und zu niedrigeren Preisen<br />
zu produzieren, ist schon seit langem das System Englands, ein System, das ich als gefährlich<br />
bekämpft habe, denn jenes System erlaubte es <strong>der</strong> englischen Industrie, Riesenfortschritte<br />
zu machen, wie es gleichzeitig Manufakturbesitzer zweimal in eine schreckliche Notlage gestürzt<br />
hat.« 26<br />
Er stellt die rhetorische Frage: »Welche Früchte trägt nun dieser ungeheuere, inzwischen<br />
angehäufte Reichtum? Hat er etwa nur dazu beigetragen, daß alle Klassen gleichermaßen die<br />
Sorgen, Entbehrungen und Gefahren vor dem völligen Ruin teilen?« 27 Die Bilanz seines Buches,<br />
mithin die Lösung des von ihm skizzierten Problems <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>nhaftigkeit <strong>der</strong> bürgerlichen<br />
Wirtschaft, formuliert er folgen<strong>der</strong>maßen: »Wenn die Reichtümer (…) zum Wohl aller<br />
beitragen sollen, dann muß sich ihre Vermehrung nach dem Zuwachs <strong>der</strong> Bevölkerung in<br />
strengen Proportionen geschehen, die nicht ohne die größte Gefahr verletzt werden können.« 28<br />
<strong>Krise</strong>n sind in dieser Lesart <strong>der</strong> bürgerlichen ordnung inhärent. Sie entstehen durch die Unterkonsumtion<br />
<strong>der</strong> breiten Massen. Aber sie sind durch eine vernünftige Regulierung vermeidbar:<br />
»Eine vollkommene soziale ordnung ist im Allgemeinen für den Armen ebenso<br />
vorteilhaft wie für den Reichen, und die Politische Ökonomie lehrt, wie sich diese ordnung<br />
erhalten läßt, wobei zwar korrigierend eingegriffen, aber nicht gänzlich umgestürzt werden<br />
sollte.« 29 Der Gesetzgeber »kann dieses Wohlergehen nicht durch die Aufteilung des Eigentums<br />
erreichen, weil er durch diese Maßnahme den Arbeitseifer herabsetzen würde, <strong>der</strong> allein<br />
imstande ist, Reichtümer zu schaffen, und <strong>der</strong> lediglich durch die Ungleichheit angeregt werden<br />
kann (…)« 30 . Dabei sind die Auffassungen Sismondis nicht konsistent. An an<strong>der</strong>er Stelle<br />
25 Simonde de Sismondi: Neue Grundsätze <strong>der</strong> Politischen Ökonomie o<strong>der</strong> Vom Reichtum in seinen Beziehungen<br />
zur Bevölkerung, Erster Band, Ökonomische Studientexte, Bd. 4, Berlin 1971, S. 4.<br />
26 Ebenda, S. 5.<br />
27 Ebenda, S. 8.<br />
28 Ebenda, S. 9.<br />
29 Ebenda, S. 27.<br />
30 Ebenda, S. 28.<br />
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