Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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schaft über die innere Natur begreifen lässt. 15 Natur selbst ist nicht als ontologisch zu verstehen,<br />
son<strong>der</strong>n sie konstituiert sich nur in <strong>der</strong> Konstellation von Individuum und Gesellschaft<br />
und meint schlicht Blindwüchsiges: »Natur ist <strong>der</strong> blinde Kreislauf des Lebens, das als einzelnes<br />
vernichtet wird um an<strong>der</strong>en einzelnen Lebens willen. Das einzelne muß vergehen, damit<br />
das Ganze existiere.« 16 Vernunft, als Instrument <strong>der</strong> Naturbeherrschung, ist kontrastiert zur<br />
Natur und zugleich Teil davon: »Naturhaft ist sie als die zu Zwecken <strong>der</strong> Selbsterhaltung abgezweigte<br />
physische Kraft; einmal aber abgespalten und <strong>der</strong> Natur kontrastiert, wird sie auch<br />
zu <strong>der</strong>en An<strong>der</strong>em.« 17 Vernunft als das An<strong>der</strong>e zur Natur realisiert sich durch die gesellschaftlichen<br />
Instanzen, <strong>der</strong>er die Menschen zur Selbsterhaltung bedürfen, als Nutzen und damit als<br />
Art und Weise, wie sich das Verhältnis <strong>der</strong> Reproduktion <strong>der</strong> Einzelnen und <strong>der</strong> Allgemeinheit<br />
darstellt. 18 In den Produktivkräften erscheint somit <strong>der</strong> historische Stand des Herausarbeitens<br />
aus <strong>der</strong> Natur; zugleich aber, da die »vervielfachte Produktionskraft, die durch das in <strong>der</strong> Teilung<br />
<strong>der</strong> Arbeit bedingte Zusammenwirken <strong>der</strong> verschiedenen Individuen entsteht«, die soziale<br />
Macht darstellt, erscheint jene »diesen Individuen, weil das Zusammenwirken selbst nicht<br />
freiwillig, son<strong>der</strong>n naturwüchsig ist, nicht als ihre eigne, vereinte Macht, son<strong>der</strong>n als eine<br />
fremde, außer ihnen stehende Gewalt, von <strong>der</strong> sie nicht wissen woher und wohin, die sie also<br />
nicht mehr beherrschen können, die im Gegenteil nun eine eigentümliche, vom Wollen und<br />
Laufen <strong>der</strong> Menschen unabhängige, ja dies Wollen und Laufen erst dirigierende Reihenfolge<br />
von Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft«. 19 Im Kapital vollendet sich die Institutionalisierung<br />
jener Erhöhung über die Natur in <strong>der</strong> Verdinglichung des Werts als Ausdruck des gesellschaftlichen<br />
Prozesses <strong>der</strong> einan<strong>der</strong> als isolierte Gegenübertretenden und damit als Vermittlungsinstanz<br />
<strong>der</strong> gesellschaftlichen Synthesis. Die Produktivkräfte, als Produktionsmittel,<br />
organisation <strong>der</strong> Kooperation und Entwicklung <strong>der</strong> Fähigkeiten <strong>der</strong> Einzelnen, sind solchermaßen<br />
naturwüchsig und herrschaftlich organisiert, dass jede Weiterentwicklung zugleich eine<br />
Verstärkung o<strong>der</strong> Verfeinerung <strong>der</strong> Herrschaft bedeutet. Gleichzeitig ist <strong>der</strong> Geist – als Ausdruck<br />
<strong>der</strong> Vernunft, die darin über die bloße Reproduktion hinausgeht und in <strong>der</strong> Kultur Vorstellungen<br />
des Lebens entwirft – <strong>der</strong>art mit jener organisation verknüpft, dass er auf die bloße<br />
technische Handhabung und Herrschaftsausübung regrediert. Eben nur die Mittel <strong>der</strong> Beherrschung<br />
wurden rational, die Zwecke aber verblieben im Irrationalen. 20 Dieser Zusammenhang<br />
desintegriert und integriert die Subjekte zugleich: als Vereinzelte, die ihren Zwecken nach-<br />
15 Vgl. hierzu vor allem das odysseus-Kapitel in: Horkheimer, Adorno: Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung.<br />
16 Schmid Noerr: Das Eingedenken <strong>der</strong> Natur im Subjekt, S. 77.<br />
17 Adorno: Negative Dialektik, S. 285.<br />
18 »ohne die Gesamtheit ist das Individuum nichts. Vernunft ist die Art und Weise, wie das Individuum in seinen<br />
Handlungen den Ausgleich zwischen seinem eigenen Nutzen und dem <strong>der</strong> Gesamtheit herstellt.« – Max Horkheimer:<br />
Vernunft und Selbsterhaltung, in: <strong>der</strong>s.: Traditionelle und kritische <strong>Theorie</strong> (1942), Frankfurt am Main 1992,<br />
S. 271-301; S. 275.<br />
19 Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik <strong>der</strong> neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten<br />
Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in:<br />
dies.: Werke (MEW), Bd. 3, S. 34.<br />
20 Vgl. Schmid Noerr: Das Eingedenken <strong>der</strong> Natur im Subjekt, S. 77.<br />
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