Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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und beanspruchen kann. Insofern verweist es nicht auf eine Schwäche o<strong>der</strong> gar Überholtheit<br />
<strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong>, wenn immer wie<strong>der</strong> die Frage gestellt wurde und auch jetzt wie<strong>der</strong><br />
gestellt wird, was <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> heute, also im Bezug auf die jeweilige Gegenwart, ist<br />
o<strong>der</strong> sein könne. Diese Frage ist vielmehr in das Projekt »<strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong>« konstitutiv eingeschrieben.<br />
Würde diese Frage nicht immer wie<strong>der</strong> gestellt werden müssen, dann wäre <strong>Kritische</strong><br />
<strong>Theorie</strong> eben keine kritische, son<strong>der</strong>n traditionelle <strong>Theorie</strong>. Allerdings kann es eine<br />
Konstellation geben, unter <strong>der</strong> das Projekt <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> an sein Ende gekommen<br />
ist: im Fall <strong>der</strong> Abwesenheit sozialer Bewegungen.<br />
»ohne den wie auch immer bewerkstelligten Aufweis, dass <strong>der</strong> kritischen Perspektive innerhalb<br />
<strong>der</strong> sozialen Realität ein Bedürfnis o<strong>der</strong> eine Bewegung entgegenkommt, lässt sich<br />
die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> heute in keiner Weise mehr fortsetzen; denn von an<strong>der</strong>en Ansätzen <strong>der</strong><br />
Sozialkritik unterscheidet sie sich nicht mehr durch eine Überlegenheit im soziologischen<br />
Erklärungsgehalt o<strong>der</strong> im philosophischen Begründungsverfahren, son<strong>der</strong>n einzig und allein<br />
noch durch den nicht aufgegebenen Versuch, den Maßstäben <strong>der</strong> Kritik einen objektiven Halt<br />
in <strong>der</strong> vorwissenschaftlichen Praxis zu geben.« 6<br />
Mit diesen Überlegungen weist Axel Honneth nicht einfach auf die Trivialität hin, dass<br />
<strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> und soziale Bewegungen wechselseitig aufeinan<strong>der</strong> angewiesen sind. Son<strong>der</strong>n<br />
systematisch wichtig ist ihm, dass diejenigen, die von gesellschaftlichen Wi<strong>der</strong>sprüchen<br />
leidvoll betroffen sind, diese Wi<strong>der</strong>sprüche im Vollzug ihres je individuellen Lebens als Leid<br />
erfahren und ihr Leid nicht verschweigen o<strong>der</strong> durch die Lei<strong>der</strong>fahrung sprachlos werden,<br />
son<strong>der</strong>n es in einer Vielfalt von affektuellen Ausdrucksformen als Scham, Wut und Empörung<br />
artikulieren – ohne dass Politiker und Theoretiker diese Artikulationen als Äußerung von<br />
Kritik verstehen. Insofern ist es eine erste Aufgabe <strong>Kritische</strong>r <strong>Theorie</strong> nicht stellvertretend<br />
und paternalistisch für die und anstelle <strong>der</strong> Betroffenen zu sprechen, würde so doch fälschlich<br />
<strong>der</strong>en Schweigen imaginiert, 7 son<strong>der</strong>n gemeinsam an <strong>der</strong> Artikulation <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>nerfahrungen<br />
zu arbeiten, eine gemeinsame Ausdrucksform zu finden, die das bloß Affektuelle überwindet.<br />
Diese gemeinsam erarbeitete Artikulation von <strong>Krise</strong>nerfahrungen findet auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />
<strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong> ihren Ausdruck in Zeitdiagnosen als Bestimmung <strong>der</strong> je eigenen Gegenwart,<br />
die den Anfang von <strong>Theorie</strong>nbildungsprozessen darstellen.<br />
Der historische Zeitkern, auf den die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> sich bezog, war die Epoche des<br />
Fordismus. Um diesen in seinen verschiedenen Phasen thematisieren zu können, bedurfte es<br />
nicht nur empirisch gestützter Forschungen, son<strong>der</strong>n – um diese zu ermöglichen – zunächst<br />
und immer wie<strong>der</strong> Bemühungen <strong>der</strong> Zeitdiagnose. Solche Zeitdiagnosen liegen mit Horkheimers<br />
»Dämmerung« und Adornos »Minima Moralia« vor. Bezogen auf die Bundesrepublik<br />
hat Horkheimer bis zum Ende seines Lebens Notizen angelegt und zum Teil veröffent-<br />
6 Axel Honneth: Das An<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt am Main 2000,<br />
S. 92.<br />
7 Vgl. Axel Honneth (Hg.): Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben <strong>der</strong> Sozialphilosophie, Frankfurt am Main 1994;<br />
vgl. hierzu auch Jacques Rancière: Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002.<br />
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