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Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

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au in ihrer Verkehrung zugleich amalgamieren: Kultur wird als zunehmend wirtschaftlich<br />

relevanter Produktionssektor zur Basis; gleichzeitig erscheinen aber die Produktionsverhältnisse<br />

als Überbau, so dass sich die Differenzen zwischen materiellen und ideellen Lebensverhältnissen<br />

invertieren und nivellieren. 49 Das Lustprinzip steht dem Realitätsprinzip nicht<br />

mehr gegenüber, son<strong>der</strong>n wird zum entscheidenden Faktor <strong>der</strong> Leistungsgesellschaft. Die<br />

Freizeit wird ideologisch dem Arbeitsleben übergeordnet, obwohl tatsächlich das Leben uneingeschränkt<br />

von <strong>der</strong> Kapitallogik determiniert ist. Insofern än<strong>der</strong>n sich mit dem Pop auch<br />

die Mechanismen individueller wie sozialer Selbstrepräsentation: Auf private und politische<br />

Identitätskrisen muss ad hoc und flexibel reagiert werden. Aus dem Bürger wird <strong>der</strong> Konsument,<br />

bzw. aus dem politischen Subjekt wird das kulturelle Subjekt. 50<br />

Soziale Integration vollzieht sich nunmehr als Internalisierung <strong>der</strong> Tauschlogik: als Identifikation<br />

mit den Waren als Waren. Das onomatopoetikon »Pop« meint dabei nicht bloß die<br />

Abkürzung für »populär«, son<strong>der</strong>n ist selbst Emblem, Warenmarke o<strong>der</strong> Comicsprache (engl.<br />

»to pop« meint »platzen«, »aufspringen«). Die Jugend ist in <strong>der</strong> Popkultur sowohl Subjekt<br />

als auch Prädikat (o<strong>der</strong> Projekt, wie Vilém Flusser es nennt); im Namen <strong>der</strong> Jugend können<br />

Konsum und Rebellion zu zugleich konformistischen und nonkonformistischen Lebensweisen<br />

verbunden werden. Produktionsverhältnisse, vor allem <strong>der</strong> Zwang zur Arbeit, erscheinen<br />

dabei nur noch als Epiphänomene, das gesellschaftliche Schicksal des Menschen wird zur<br />

Privatangelegenheit (Schule, Beruf, Gesundheit etc.). Die konkrete Totalität des Alltagslebens<br />

verdoppelt sich in medialen Imaginationen, symbolischen ordnungen und diskursiven Normierungen.<br />

<strong>Krise</strong> ebenso wie Kritik werden zu Versatzstücken eines sich selbst reproduzierenden<br />

Spektakels, das unablässig proklamiert: Alles, was heute in den kapitalistischen Gesellschaften<br />

als Problem auftrete, könne durch die kapitalistischen Gesellschaften selbst gelöst<br />

werden. So erstrahlt sogar in ihrer gegenwärtigen <strong>Krise</strong>nverfassung die Welt als beste aller<br />

möglichen. Die Zukunft bringt keine essentielle Verän<strong>der</strong>ung mehr, son<strong>der</strong>n nur die akzidentielle<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Gegenwart. Die Gesellschaften, die als nicht-kapitalistisch wahrgenommen<br />

werden o<strong>der</strong> sich als solche selbst darstellen, bekommen als Lösung eine nachholende<br />

Kapitalisierung verordnet. Dazu gehört eben auch eine als »westliche Lebensweise«<br />

inszenierte Popkultur, mit <strong>der</strong> aufs engste die Vorstellung von Vielfalt, Konsumfreiheit und<br />

Unterhaltung verbunden ist. Kultur und Ökonomie erscheinen als miteinan<strong>der</strong> verschmolzen,<br />

wobei die Strukturen, die das gesellschaftliche Ganze tatsächlich zusammenhalten, Produktionsverhältnisse<br />

und <strong>der</strong> Warentauschverkehr, sich <strong>der</strong>art abstraktifiziert haben, dass die<br />

längst selbstverständlich gewordene Kritik über die bloße Meinung und »Informiertsein« nur<br />

schwer hinauszukommen scheint und es kaum noch gelingen will, die konkrete Totalität po-<br />

49 Ein Beispiel dafür ist die Trivialisierung philosophischer Begriffe, wonach etwa ein »Materialist« ein nach materiellen<br />

Gütern streben<strong>der</strong> Mensch sei, ein »Idealist« hingegen ein schwärmerischer und realitätsferner Träumer.<br />

50 »Kulturelles Subjekt« bezieht sich sowohl auf die »Kulturalisierung« als auch auf die »Kultivierung« des Subjekts<br />

(in Anlehnung an die Ästhetik des Geschmacks im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t); dieser Subjekt-Typus definiert sich durch<br />

einen performativen Lifestyle-Individualismus.<br />

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