30.12.2012 Aufrufe

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

gerade durch das Nicht-Diskursive, durch das Impulsartige an ihr. Das »Hinzutretende am<br />

Sittlichen« ist jenes unberechenbare Moment, das keine vernünftige Begründung hat und<br />

sich auf keine Prinzipien reduzieren lässt – seien diese auch so radikal und einzigartig wie<br />

die Berufung auf Auschwitz.<br />

Ein solches Missverständnis – wenn nicht gar einen solchen Missbrauch – des Adornoschen<br />

Kategorischen Imperativs und <strong>der</strong> Identifizierung des radikal »Bösen« mit den einzigartigen<br />

Ereignissen, die unter dem Begriff »Auschwitz« subsumiert werden, ist – wenn auch<br />

ohne direkten Bezug zu Adorno – Gegenstand von Badious Kritik an <strong>der</strong> »ethischen« Identifizierung<br />

des Bösen. Die Bedeutung von Auschwitz für den Ethikdiskurs ist insofern eine<br />

paradoxe, weil sie gerade durch die Berufung auf die Einzigartigkeit des Verbrechens an<strong>der</strong>e,<br />

neue Verbrechen legitimiert. So funktioniert <strong>der</strong> innere Mechanismus <strong>der</strong> »ethischen« Ideologie.<br />

Badiou zufolge »werden die Vernichtungslager und die Nazis zugleich als undenkbar,<br />

unsagbar, präzedenzlos und ohne denkbare Nachkommenschaft erklärt – da sie die absolute<br />

Form des Bösen bezeichnen –, und dennoch werden sie ständig beschworen, verglichen und<br />

benutzt, um jeden Umstand (toute circonstance) zu schematisieren, wo man in <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Meinung die Wirkung eines Bewußtseins des Bösen erreichen will«. 34 Badiou ist sich<br />

zwar bewußt, daß <strong>der</strong> Name Auschwitz für den Ethikdiskurs die Bedeutung des »maßlosen<br />

Maßes« hat; dass »das, was das Maß hergibt, selbst nicht meßbar ist und doch ständig gemessen<br />

wird«, dass »dieses Verbrechen als höchstes negatives Beispiel (…) unnachahmlich<br />

[ist], aber dennoch ist jedes beliebige Verbrechen eine Nachahmung«. 35 Es ist insofern nicht<br />

<strong>der</strong> Bezug zu Auschwitz als dem negativen Extremen, <strong>der</strong> als problematisch erscheint, son<strong>der</strong>n<br />

die Rolle, die die Idee von Auschwitz als maßloses Maß im Ethikdiskurs, in <strong>der</strong> »ethischen«<br />

Ideologie spielt. Denn die Kehrseite des Paradoxons des radikalen »Bösen« bedeutet,<br />

dass <strong>der</strong> Vergleich zum Unvergleichlichen jedes Handeln »im Namen von«, in Berufung auf<br />

diesen negativen Anker legitimiert werden kann. Das maßlose Maß wird zu einer Begründung<br />

für alles – und für nichts. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Der Kategorische Imperativ Adornos verliert<br />

damit seinen kategorischen Charakter. »Im Namen« <strong>der</strong> Vermeidung einer Wie<strong>der</strong>holung<br />

von Auschwitz ließen sich daher die unterschiedlichsten Gewalttaten rechtfertigen, sobald<br />

sie nach dem Vokabular <strong>der</strong> »ethischen« Ideologie behandelt werden.<br />

Der Missbrauch von Moral im Namen <strong>der</strong> Ethik, selbst durch ein ethisches Vokabular begründet,<br />

ist ein Phänomen von <strong>Krise</strong>nzeiten, o<strong>der</strong> genauer: von Nach-<strong>Krise</strong>n-Zeiten. Denn<br />

krisenartige Ereignisse, die das Weltbild und die Geschichte <strong>der</strong> Menschheit verän<strong>der</strong>n, bringen<br />

keine neuen Ethiken mit sich, son<strong>der</strong>n – so zeigen die Reflexionen über die <strong>Krise</strong>n des<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts – eröffnen nur die Möglichkeit, herrschende Ethiken in Zweifel zu ziehen,<br />

diese in ihrem Zerbröckeln zu beobachten und über die Leerstelle, die dann entsteht, zu reflektieren.<br />

»Ethische« Ideologie, so wie man sie mit Adorno und Badiou verstehen kann, ist<br />

34 Badiou: Ethik. Versuch über das Bewußtsein des Bösen, S. 86.<br />

35 Ebenda, S. 86 f.<br />

144

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!