Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Die Debatte unter den sich auf Marx beziehenden sozialdemokratischen Ökonominnen<br />
und Ökonomen entzündete sich unter an<strong>der</strong>em an den Arbeiten Tugan-Baranowskis. 61 Er<br />
wählte als Ausgangspunkt seiner Betrachtungen die Marxschen Reproduktionsschemata. In<br />
ihnen hatte Marx versucht, die Austauschbeziehungen zwischen den Abteilungen <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Produktion zu beschreiben, die für das Funktionieren kapitalistischer Wirtschaft<br />
erfor<strong>der</strong>lich sind. Daran anknüpfend, entspann sich eine Diskussion um zwei Fragen: Die<br />
erste drehte sich darum, ob und inwieweit aus den Marxschen Forschungen und Darlegungen<br />
eine ökonomische Unmöglichkeit des Kapitalismus auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung<br />
abzuleiten sei, eine Wirtschaftskrise also notwendig in den Sturz des Kapitalismus<br />
umschlagen könnte. Es ging darum, ob in einer reinen kapitalistischen Gesellschaft eine Profitproduktion<br />
möglich ist o<strong>der</strong> nicht. Bedarf <strong>der</strong> Kapitalismus nichtkapitalistischer Bereiche<br />
o<strong>der</strong> nicht? Ist also eine marxistische <strong>Krise</strong>ntheorie eine Zusammenbruchstheorie? Die zweite<br />
Frage berührte den Charakter <strong>der</strong> Wirtschaftskrisen: Sind es Unterkonsumtionskrisen o<strong>der</strong><br />
Überakkumulationskrisen? Welchen Stellenwert und Sinn hat dementsprechend <strong>der</strong> Kampf<br />
des Proletariats?<br />
An diesen Auseinan<strong>der</strong>setzungen beteiligten sich in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Weise fast<br />
alle wesentlichen, in <strong>der</strong> Tradition von Marx stehenden Theoretiker. Karl Kautsky charakterisierte<br />
den Stand <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>nauffassungen unter den nachmarxschen sozialdemokratischen<br />
Marxistinnen und Marxisten (nach seinen Worten <strong>der</strong> »allgemein angenommenen, von Marx<br />
begründeten <strong>Krise</strong>ntheorie«) folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
»Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit <strong>der</strong> Zunahme<br />
des Reichthums <strong>der</strong> ersteren und <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so<br />
rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität <strong>der</strong> Arbeit anwachsenden und<br />
für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von <strong>der</strong> kapitalistischen Großindustrie geschaffenen<br />
Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches<br />
in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet<br />
sie auch und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn<br />
dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit<br />
des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur Großindustrie<br />
geworden ist (…) erhält sie die Möglichkeit <strong>der</strong>artiger sprunghafter Ausdehnung,<br />
daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholt. So ist jede Periode <strong>der</strong> Prosperität,<br />
die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgt, von vornherein zur Kurzlebigkeit<br />
verurtheilt und die <strong>Krise</strong> wird ihr notwendiges Ende.« 62<br />
Der »letzte Grund <strong>der</strong> periodischen <strong>Krise</strong>n« liege in <strong>der</strong> kapitalistischen Ausbeutung, so<br />
Kautsky. Damit leitet er seine Kritik mit <strong>der</strong> Behauptung Tugan-Baranowskis ein, dass die<br />
61 Vgl. dazu Jannis Milios, Georg Economakis: Zur Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Krise</strong>ntheorie aus dem Kontext <strong>der</strong> Reproduktionsschemata:<br />
von Tugan-Baranowski zu Bucharin, in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung, Neue Folge 2002:<br />
Klassen-Revolution-Demokratie, Berlin, Hamburg 2003, S. 160-184.<br />
62 Karl Kautsky: <strong>Krise</strong>ntheorien, in: Die Neue Zeit, 1901–1902, II. Band, S. 80.<br />
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