30.12.2012 Aufrufe

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Unkritisch wäre gegenwärtig die Ignorierung <strong>der</strong> historischen Umstände, unter denen das<br />

Wissen um eben diese negative Gewissheit abhanden gekommen ist, überdies auch ohne eine<br />

wirklich registrierte, geschweige denn beklagte Verlusterfahrung. Es wäre dies in <strong>der</strong> Tat die<br />

Manifestierung eines nachkritischen Zustandes, <strong>der</strong> einer »Entfesselung, Entwertung und<br />

Vergleichgültigung <strong>der</strong> Kritik« 10 , wenn man so will, einer postmo<strong>der</strong>nen Beliebigkeit entspräche.<br />

In diesem Zustand sedimentiert sich ein Denken, welches die metaphysische Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Differenz von Wesen und Erscheinung nivelliert und die Beschränkung auf das rein<br />

Faktische fixiert. Auf die eingangs formulierte Transzendenzangewiesenheit einer demokratischen<br />

Gesellschaft übertragen bedeutet das eine damit angesprochene Differenz von Sein<br />

und Sollen auch für das Verhältnis vom Gegenstand und dessen Begriff. Es ist nach Adorno<br />

ein erster Ansatz <strong>der</strong> Kritik, dass »sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche<br />

jene Wirklichkeiten sich berufen: die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere.« 11<br />

Tote Hunde beißen nicht, weiß ein geläufiges Sprichwort, und ganz in diesem Sinne<br />

scheint auch die Absicht <strong>der</strong>er zu sein, die unentwegt vom Veralten <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong><br />

reden, diese als unzeitgemäß darstellen, ihre Relevanz zu entwerten sich anmaßen und sie<br />

als obsolet deklarieren, und zwar in meist krassem Gegensatz zu ihrem sachlich, theoretisch<br />

und methodisch unabgegoltenen Anspruch. Gleich dem Überbringer <strong>der</strong> schlechten Nachricht<br />

wird die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> für ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen abgestraft und<br />

werden ihre Begriffe und Kategorien entsorgt. Eine nachgerade katalysatorische Wirkung<br />

bei diesem Entsorgungsvorgang zeitigte, wie bereits erwähnt, <strong>der</strong> Zusammenbruch des sogenannten<br />

realexistierenden Sozialismus, welcher eine Wende von einer sozial ausgerichteten<br />

Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie hin zu einem kulturellen Paradigma, bzw. einem kulturalistisch<br />

eingefärbten Blick auf Gesellschaft um jeden Preis zu legitimierten schien. Seitdem<br />

schreitet eine teils unmerklich vollstreckte, teils bewusst erklärte und dezidiert gefor<strong>der</strong>te<br />

Ablösung kultureller wissenschaftlicher Analysen von Gesellschaftskritik voran. Auf <strong>der</strong><br />

Welle vom »Ende <strong>der</strong> Geschichte« und dem »Abschied <strong>der</strong> großen Metaerzählungen« reitend,<br />

wird über Gesellschaft und Geschichte geschlossen in terms of culture gedacht und reflektiert.<br />

Derart gereinigt von <strong>der</strong> Strukturbedingtheit <strong>der</strong> Gesellschaft, die die Räume <strong>der</strong> kulturellen<br />

Phänomene ja erst eigentlich bedingt, gerät alles unter die Mühlen des Kulturellen, welches<br />

seinem Wesen nach <strong>der</strong> Frage nach sozialer Ungleichheit gegenüber indifferent bleibt und<br />

sich als prinzipiell instrumentalisierbar für partikulare politische Interessen erweist. <strong>Kritische</strong><br />

<strong>Theorie</strong> hat dialektische Kulturtheorie niemals aus den Augen verloren, kulturelle Erscheinungen<br />

und Prozesse somit auch nie aus dem gesellschaftlichen Strukturzusammenhang herausgelöst.<br />

10 Christoph Türke: Das Altern <strong>der</strong> Kritik, S. 7.<br />

11 Adorno: Kritik, S. 792 f.<br />

167

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!