Kritische Theorie der Krise - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Unkritisch wäre gegenwärtig die Ignorierung <strong>der</strong> historischen Umstände, unter denen das<br />
Wissen um eben diese negative Gewissheit abhanden gekommen ist, überdies auch ohne eine<br />
wirklich registrierte, geschweige denn beklagte Verlusterfahrung. Es wäre dies in <strong>der</strong> Tat die<br />
Manifestierung eines nachkritischen Zustandes, <strong>der</strong> einer »Entfesselung, Entwertung und<br />
Vergleichgültigung <strong>der</strong> Kritik« 10 , wenn man so will, einer postmo<strong>der</strong>nen Beliebigkeit entspräche.<br />
In diesem Zustand sedimentiert sich ein Denken, welches die metaphysische Erfahrung<br />
<strong>der</strong> Differenz von Wesen und Erscheinung nivelliert und die Beschränkung auf das rein<br />
Faktische fixiert. Auf die eingangs formulierte Transzendenzangewiesenheit einer demokratischen<br />
Gesellschaft übertragen bedeutet das eine damit angesprochene Differenz von Sein<br />
und Sollen auch für das Verhältnis vom Gegenstand und dessen Begriff. Es ist nach Adorno<br />
ein erster Ansatz <strong>der</strong> Kritik, dass »sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche<br />
jene Wirklichkeiten sich berufen: die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere.« 11<br />
Tote Hunde beißen nicht, weiß ein geläufiges Sprichwort, und ganz in diesem Sinne<br />
scheint auch die Absicht <strong>der</strong>er zu sein, die unentwegt vom Veralten <strong>der</strong> <strong>Kritische</strong>n <strong>Theorie</strong><br />
reden, diese als unzeitgemäß darstellen, ihre Relevanz zu entwerten sich anmaßen und sie<br />
als obsolet deklarieren, und zwar in meist krassem Gegensatz zu ihrem sachlich, theoretisch<br />
und methodisch unabgegoltenen Anspruch. Gleich dem Überbringer <strong>der</strong> schlechten Nachricht<br />
wird die <strong>Kritische</strong> <strong>Theorie</strong> für ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen abgestraft und<br />
werden ihre Begriffe und Kategorien entsorgt. Eine nachgerade katalysatorische Wirkung<br />
bei diesem Entsorgungsvorgang zeitigte, wie bereits erwähnt, <strong>der</strong> Zusammenbruch des sogenannten<br />
realexistierenden Sozialismus, welcher eine Wende von einer sozial ausgerichteten<br />
Kritik <strong>der</strong> politischen Ökonomie hin zu einem kulturellen Paradigma, bzw. einem kulturalistisch<br />
eingefärbten Blick auf Gesellschaft um jeden Preis zu legitimierten schien. Seitdem<br />
schreitet eine teils unmerklich vollstreckte, teils bewusst erklärte und dezidiert gefor<strong>der</strong>te<br />
Ablösung kultureller wissenschaftlicher Analysen von Gesellschaftskritik voran. Auf <strong>der</strong><br />
Welle vom »Ende <strong>der</strong> Geschichte« und dem »Abschied <strong>der</strong> großen Metaerzählungen« reitend,<br />
wird über Gesellschaft und Geschichte geschlossen in terms of culture gedacht und reflektiert.<br />
Derart gereinigt von <strong>der</strong> Strukturbedingtheit <strong>der</strong> Gesellschaft, die die Räume <strong>der</strong> kulturellen<br />
Phänomene ja erst eigentlich bedingt, gerät alles unter die Mühlen des Kulturellen, welches<br />
seinem Wesen nach <strong>der</strong> Frage nach sozialer Ungleichheit gegenüber indifferent bleibt und<br />
sich als prinzipiell instrumentalisierbar für partikulare politische Interessen erweist. <strong>Kritische</strong><br />
<strong>Theorie</strong> hat dialektische Kulturtheorie niemals aus den Augen verloren, kulturelle Erscheinungen<br />
und Prozesse somit auch nie aus dem gesellschaftlichen Strukturzusammenhang herausgelöst.<br />
10 Christoph Türke: Das Altern <strong>der</strong> Kritik, S. 7.<br />
11 Adorno: Kritik, S. 792 f.<br />
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