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Walter Johannes Steins

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Schiller suchte diese «Gewissensskrupel» auf seine Art<br />

zu lösen. Zwei Triebe walten tatsächlich im Menschen: der<br />

sinnliche Trieb und der Vernunfttrieb. Überläßt sich der<br />

Mensch dem sinnlichen Trieb, so ist er ein Spielball seiner<br />

Begierden und Leidenschaften, kurz, seiner Selbstsucht.<br />

Gibt er sich ganz dem Vernunfttrieb hin, so ist er ein Sklave<br />

seiner strengen Gebote, seiner unerbittlichen Logik, seines<br />

kategorischen Imperativs. Ein Mensch, der bloß dem sinnlichen<br />

Triebe leben will, muß die Vernunft in sich zum<br />

Schweigen bringen; ein solcher, der nur der Vernunft dienen<br />

will, muß die Sinnlichkeit ertöten. Hört der erstere doch die<br />

Vernunft, so unterwirft er sich ihr nur unfreiwillig; vernimmt<br />

der letztere die Stimme seiner Begierde, so empfindet er sie<br />

als Last auf seinem Tugendwege. Die physische und die geistige<br />

Natur des Menschen scheinen also in einem verhängnisvollen<br />

Zwiespalt zu leben. Gibt es nicht einen Zustand im<br />

Menschen, in dem beide Triebe, der sinnliche und der geistige,<br />

in Harmonie stehen? Schiller beantwortet die Frage mit<br />

«Ja». Es ist der Zustand, in dem das S c h ö n e geschaffen<br />

und genossen wird 19 )». Man sieht, Schiller meint, das wahre<br />

Ich sei etwas, das sich nicht mit dem Vernunfttrieb (mit dem<br />

moralischen Wesen), aber auch nicht mit den Leidenschaften<br />

und Begierden identifiziert. Er meint, daß das Ich sich als<br />

ein Wesen erlebe, das sich gegenüber beiden als ein von ihnen<br />

Unterschiedenes behauptet. Und wo findet sich dieses?<br />

Eben in dem Reich des Schönen, von dem Goethe sagt, es sei<br />

«die Manifestation geheimer Naturgesetze». Indem das Ich<br />

sich viermal abhebt, vom eigenen Leib, von den Erinnerungen,<br />

von den eigenen Trieben, vom Moralischen [18] in uns –<br />

findet es sich im Gebiet des Schönen, das eine Manifestation<br />

geheimer Naturgesetze ist. Und hier spricht das Ich: «Natur!<br />

Wir sind von dir umgeben und umschlungen …»<br />

Was also trennt das Ich von der Natur? D e r Teil der<br />

Welt, welcher v e r b o r g e n ist, der aber offenbar wird, wenn<br />

der Mensch sein tiefstes Wesen in dem erfaßt, was er aus<br />

Neigung, aus Liebe tut.<br />

19 R. Steiner, Die Rätsel der Philosophie» GA 18, S. 190.<br />

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