Walter Johannes Steins
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Weil Goethe so empfindet, muß er auch das, was so<br />
ganz aus dem innersten Wesen des selbstbewußten Menschen-Ich<br />
quillt, das Kunstwerk, für ein zwar über das bloße<br />
Naturprodukt Hinaus gehendes, nicht aber für ein der Natur<br />
Wesenfremdes halten. Goethe sieht im Kunstwerk die Offenbarung<br />
geheimer Naturgesetze. «Der Gegenstand, den der<br />
Künstler vor uns stellt, ist vollkommener als er in seinem<br />
Naturdasein ist; aber er trägt doch keine andere Vollkommenheit<br />
als seine eigene an sich. In diesem Hinausgehen des<br />
Gegenstandes über sich selbst, aber doch nur auf Grundlage<br />
dessen, was in ihm schon verborgen ist, liegt das Schöne.<br />
Das Schöne ist also kein Unnatürliches; und Goethe kann<br />
mit Recht sagen: «Das Schöne ist eine Manifestation geheimer<br />
Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig<br />
wären verborgen geblieben», oder an einem anderen Orte:<br />
«Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis enthüllt, der sehnt<br />
sich nach ihrer würdigsten Auslegerin: d e r K u n s t 9 )».<br />
Dieser Weltanschauungsstimmung Goethes, in den<br />
Kunstschöpfungen. Seelenerlebnissen und Ideen des Menschen<br />
Naturprodukte höherer Art zwar, aber doch Naturprodukte<br />
zu sehen, ist die Einstellung der modernen naturwissenschaftlichen<br />
Vorstellungsart völlig entgegengesetzt. Sie<br />
sucht nicht zu erkennen, wie Natur im Menschen sich selbst<br />
erlebt, sondern sie stellt das selbstbewußte Ich schroff alledem<br />
entgegen, was mit den Innenerlebnissen der selbstbewußten<br />
Seele nichts zu tun hat. Das selbstbewußte Ich betrachtet<br />
das rein natürliche Geschehen. Dieses ist Objekt<br />
der Wissenschaft, nicht aber was die menschliche Seele an<br />
dem Objekte der Wissenschaft erlebt. Nicht ob «das Weltall<br />
aufjauchzen» würde, «wenn es sich selbst empfinden [9]<br />
könnte», interessiert sie, sondern die rein physikalischen<br />
Zusammenhänge. Dadurch aber, daß die moderne naturwissenschaftliche<br />
Vorstellungsart alles aus dem Weltbild aus-<br />
9 Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, Vortrag gehalten im Wiener Goetheverein<br />
am 9. November 1888 von Rudolf Steiner. Sonder-Abdruck aus<br />
dem 4. (April-)Heft der «Deutschen Worte», 1889, S. 13. Verlag der «Deutschen<br />
Worte» (Engelbert Pernersdorfer).<br />
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