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Walter Johannes Steins

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Seele erlebte, ihn liebte, er hat nicht zufällig im dreizehnten<br />

Kapitel des ersten Briefes an die Korinther so tief erlebte<br />

Worte über die Liebe gesprochen.<br />

«Der Weg zum Herzen geht durch den Kopf. Davon<br />

macht auch die Liebe keine Ausnahme. Wenn sie nicht die<br />

bloße Äußerung des niedrigen 21 ) Geschlechtstriebes ist,<br />

dann beruht sie auf den Vorstellungen, die wir uns von dem<br />

geliebten Wesen machen. Und je idealistischer diese Vorstellungen<br />

sind, desto beseligender ist die Liebe. Auch hier ist<br />

der Gedanke der Vater des Gefühls. Man sagt: die Liebe mache<br />

blind für die Schwächen des geliebten Wesens. Die Sache<br />

kann auch umgekehrt angefaßt werden und behauptet:<br />

die Liebe öffne gerade für die Vorzüge das Auge. Viele gehen<br />

ahnungslos an diesen Vorzügen vorbei, ohne sie zu bemerken.<br />

Der eine sieht sie, und eben deswegen erwacht die Liebe<br />

in seiner Seele. Was hat er anders getan: als von dem sich<br />

eine Vorstellung gemacht, wovon hundert andere keine haben.<br />

Sie haben die Liebe nicht, weil ihnen die Vorstellung<br />

mangelt 22 ).»<br />

Die Vorstellungen, welche wir uns aneignen müssen,<br />

damit die Liebe in uns erwachen kann, drängen sich uns<br />

aber nicht auf. Sie sind nicht so offenbar wie die Vorstellungen<br />

beurteilender Kritik, die sich ohne alles Zutun ganz von<br />

selbst einstellen. Die Vorstellungen, welche geeignet sind,<br />

die Liebe in uns zu entzünden, [20] müssen gesucht, müssen<br />

erarbeitet werden. Sie offenbaren sich nicht dem sensationslüsternen<br />

und kritischen Interesse, sondern nur dem liebevollen<br />

Eingehen auf ein zunächst gar nicht Interessantes.<br />

Nicht darum handelt es sich dabei, ein Interesse, das man<br />

schon hat, zu befriedigen, sondern um einen Akt der Selbsterziehung,<br />

der das Interesse für das vorliegende, zunächst<br />

uninteressante Objekt erst erbildet. Dies ist der Weg Goethes.<br />

Er geht liebevoll ein auf die Natur, und deshalb offenbaren<br />

sich ihm die geheimen Naturgesetze, an denen viele<br />

21 Anm. «niedrigen» fehlt in zweiter Aufl.<br />

22 R. Steiner, «Die Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen<br />

Weltanschauung», Berlin 1894, S. 20-21; 1918, S. 24-25.<br />

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