Walter Johannes Steins
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Modell und dem Schlüssel dazu» Natur fortzus<br />
e t z e n und zu vollenden. Wie das menschliche Embryo die<br />
Tierreihe in kurzer [61] Entwickelung nur deshalb durchläuft,<br />
um dann über alles Tierische sich hinaus zu entwikkeln,<br />
so will Goethe das Naturschaffen bloß deshalb miterleben,<br />
um dann darüber hinaus etwas zu entwickeln, was bloße<br />
außermenschliche Natur nicht entwickelt. Er will Natur<br />
nicht erkennen, sondern über die bloße W i e d e r h o l u n g<br />
der Natur im Erkennen hinaus zur Steigerung dieser<br />
Wiederholung fortschreiten und in sich selbst eine neue Fähigkeit<br />
erzeugen, die h ö h e r steht als das, was Natur in ihm<br />
ohne sein bewußtes Zutun als höchste Fähigkeit entwickelt<br />
hat, das N a c h denken. Er will in sich selbst eine schöpferische<br />
exakte Phantasie erzeugen, die nicht nur das G e w o r -<br />
d e n e erkennt, sondern das W e r d e n d e bis in seine letzten<br />
Möglichkeiten nach dem Muster der mathematischen Anschauung<br />
überblickt. Diese schöpferische Phantasie nennt<br />
Goethe Vernunft, jenes bloß N a c h denkende Verstand.<br />
«Die Vernunft ist auf das Werdende, der Verstand auf<br />
das Gewordene angewiesen 78 )». Die Urpflanze Goethes ist also<br />
etwas ganz anderes als die Form des Aristoteles. Der<br />
Grieche will erkennen, was in dem Lebendigen das Wirksame<br />
ist und er nennt dieses die Form. Goethe will wissen, wie Natur<br />
es fertig bringt, aus der unorganischen Materie das Lebendige<br />
zu eduzieren, um ihr diesen Übergang vom Unbelebten<br />
zum Belebten so gut abzulernen, daß er, indem er nun<br />
zur Steigerung fortschreitet m e h r kann, als Natur; etwas<br />
kann, um was Natur ihn b e n e i d e n soll. Die Natur wendet<br />
ihre Methode an das Unbelebte, Goethe wendet die Methode<br />
der Natur an das Denken. Was wird aus dem Denken,<br />
w e n n m a n m i t G e d a n k e n tut, was Natur mit dem Stoffe<br />
tut, das ist Goethes Problemstellung. «Goethe», sagt Steiner<br />
im ersten Band seiner «Rätsel der Philosophie», «suchte<br />
die Idee, welche die Griechen suchten, aber er suchte sie<br />
nicht als wahrnehmbare Idee, sondern in einem Miterleben<br />
der Weltvorgänge, da, wo diese nicht mehr wahrnehmbar<br />
78 Goethes Werke, Bd. XXXVI 2, S. 375.<br />
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