Walter Johannes Steins
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Wie verhält sich das selbstbewußte Ich in der Liebe? Die<br />
Beantwortung dieser Frage wird an dieser Stelle notwendig.<br />
Wenn ich begehre, steigt in mir etwas auf, das nach einem<br />
Objekt sucht, an dem es sich befriedigen kann. E r s t ist die<br />
Begierde da, dann sucht sie ihr Objekt. Ganz anders als die<br />
Begierde ist die Liebe dem geliebten Objekt verbunden.<br />
Wir lieben ein Wesen nicht bloß wegen seiner Eigenschaften.<br />
Wir lieben das Wesen selbst. Wenn wir ein Wesen lieb haben<br />
und es würde uns ein anderes Wesen an seiner statt hingestellt,<br />
mit ganz gleichen Eigenschaften, so daß wir nicht<br />
merkten, daß man uns das geliebte Wesen ausgetauscht hat,<br />
und nun sagte uns jemand davon – wir könnten uns nicht<br />
zufrieden geben. Warum? Weil die Liebe zum Unterschied<br />
von der Begierde dem Objekt verbunden ist. Die Liebe geht<br />
auf das Wesen, nicht auf die Erscheinung. Schön sagt Rudolf<br />
Steiner in seinem Buche «Die Schwelle der geistigen<br />
Welt»: «Die L i e b e ist ein Erleben des anderen in der eigenen<br />
Seele 20 )». Sein «Ich» über die Wesenheit eines andern ausdehnen,<br />
heißt ihn lieben, ihn zu sich rechnen. Wer daher<br />
sein tiefstes Wesen nicht in der moralischen Norm, sondern<br />
darin sieht, daß er liebefähig ist, der ergreift als sein tiefstes<br />
Wesen ein Element, das ihn der Welt verbindet, von der er<br />
sich als selbstbewußtes Ich abgesondert hat. Er erlebt, wie<br />
Goethe: sich in der Natur, doch auch Natur in sich. Dieses<br />
der Welt verbunden sein, durch die Liebefähigkeit, meint<br />
freilich [19] mehr als ein bloß abstrakter Idealismus sich dabei<br />
denken wird, meint mehr als ein sich ethisch der Welt<br />
verbunden fühlen. Vielmehr handelt es sich dabei um einen<br />
realen Vorgang, der nicht bloß ethische, sondern eben erkenntnistheoretische<br />
Bedeutung hat. Liebe wird hier, wie in<br />
der ganzen Abhandlung, nicht bloß als ethischer Wertfaktor,<br />
sondern als reale Seelenkraft, die im Erkenntnisvorgang<br />
konstitutiv mitwirkt, behandelt.<br />
Paulus, welcher das tiefe Wort prägte: «Nicht ich, sondern<br />
der Christus in mir», der den Christus in der eigenen<br />
20 Die Schwelle der geistigen Welt, aphoristische Ausführungen von R.<br />
Steiner, Berlin 1918, S. 87.<br />
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