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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Konzept sollte auch in diesem Licht betrachtet werden. Die entscheidende Prägung, die <strong>Meienberg</strong><br />

1968 erfahren hatte, schimmert hier durch. <strong>Meienberg</strong> verwendet den Begriff der Empathie<br />

im obigen Zitat zwar etwas vage, indem er ihn mit „Wut“ und „Empörung“ gleichsetzt.<br />

Meistens bezog er sich aber doch auf die eigentliche Grundbedeutung des Wortes, die Bereitschaft<br />

und Fähigkeit, sich in die Einstellung und Befindlichkeit anderer Menschen einzufühlen.<br />

Im Gespräch mit Otto F. Walter umschrieb er Empathie mit dem Versuch, sich „mit logischer<br />

Fantasie“ in die Haut der Protagonisten seiner Geschichte „hineinzudenken“. 528 Als literarische<br />

Referenz für ein vorbildliches empathisches Schreiben nannte er Flaubert, der so lange<br />

mit Rattengift experimentierte, bis er selbst Vergiftungserscheinung aufwies, bevor er die<br />

Vergiftungsszene in der Madame Bovary schrieb, so <strong>Meienberg</strong>. 529<br />

In einer weitergehenden Interpretation könnte <strong>Meienberg</strong>s Empathie-Konzept als rhetorische<br />

Wirkungsstrategie als Versuch gedeutet werden, den von Lukács behaupteten absoluten Gegensatz<br />

zwischen den „Mitteln der Wissenschaft“ und den „Mitteln der Literatur“ zu überwinden.<br />

Wissenschaft und Reportage operierten bei der Überzeugung der Rezipienten rein<br />

begrifflich und verstandesmässig, sagt Lukács, während die künstlerische Typengestaltung<br />

dem Leser ein Nacherleben und Nachfühlen ermöglicht. 530 Die Ablehnung der Reportage als<br />

schöpferische Methode der Literatur liegt bei Lukács ausdrücklich im Umstand begründet,<br />

dass ihr dieses entscheidende Plus der künstlerischen Gestaltung abgehe. Wenn <strong>Meienberg</strong><br />

nun den Leser mit seinem Empathie-Konzept emotional „mitnehmen“ und ihn über die Sprache<br />

mit den Gefühlen des Autors in Berührung bringen und aufrütteln will, so entspricht dies<br />

exakt Lukács Vorstellung einer nachfühlenden, sinnlichen Rezeption. <strong>Meienberg</strong>s Feldzug<br />

gegen die akademische ‚Unterdrückung‘ der Gefühle und die „Frigidität“ der wissenschaftlichen<br />

Sprache fällt so mit Lukács Negation einer bloss mit „Verstandesgründen“ operierenden<br />

Erzählmethode zusammen. <strong>Meienberg</strong>s Empathie-Konzept als rhetorische Wirkungsstrategie<br />

rückt damit einerseits in die Nähe von Lukács ästhetischem Konzept der Typengestaltung.<br />

Andererseits stellt es aber auch eine Überwindung von Lukács Theoremen dar, indem es in<br />

<strong>Meienberg</strong>s Praxis dazu eingesetzt wird, wissenschaftliche und künstlerische Darstellungsmethoden<br />

zu einer neuen hybriden Form zu verschmelzen.<br />

Die Frage, ob Empathie eine taugliche Methode geisteswissenschaftlicher Analyse sei, wurde<br />

in den 70er Jahren heftig diskutiert. Angeregt wurde diese Diskussion insbesondere vom Ethnologen<br />

Clifford Geertz, der mit seiner Theorie einer „Thick Description“ zu Beginn der 70er<br />

Jahre gerade auch in der Geschichtswissenschaft zahlreiche neue Forschungsansätze inspirierte,<br />

so etwa die Mikrogeschichte und die Historische Anthropologie (siehe Kap. 3.2.2 und<br />

3.2.3.). Geertz selbst negierte dabei die Möglichkeit einer Einfühlung des Wissenschafters in<br />

528 Lerch/Sutter 1984:, 66.<br />

529 „Ein Werkstattbesuch“, in: WSp, 76.<br />

530 Lukács 1961: 127; Jung 1989: 116.<br />

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