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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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wickelte, stärker diversifizierte und subjektiv, wertbestimmt und ideologisch überwölbte Sonderform<br />

des Bewusstseins“, 78 ein variables, fliessendes System im Sinne einer spezifischen<br />

intellektuellen Fähigkeit. Für Lutz ist das Geschichtsbewusstsein niemals direkt greifbar, sondern<br />

stellt zunächst ein Metakonstrukt dar, das über eine Funktionsanalyse erschlossen werden<br />

muss. 79 Von den fünf Funktionen, die der Autor dem Geschichtsbewusstsein zuordnet, ist<br />

die für unsere Belange wichtigste diejenige der Deutung und Identität. Deutung von Erfahrung<br />

und Wissen wird dabei als wertender, hierarchisierender und synthetisierender Sinnkonstruktionsprozess<br />

verstanden, bei welchem Geschichtsbilder generiert bzw. modifiziert werden.<br />

Die identitätsstiftende Funktion des Geschichtsbewusstseins erfolgt dann u.a. durch die<br />

instrumentelle Verwendung von Geschichtsbildern; sie ist ein permanenter Vorgang, der sich<br />

durch eine hohe Konstanz der Resultate auszeichnet. 80 Zusammengefasst könnten die drei definierten<br />

Begriffe in folgendes Verhältnis gebracht werden: Das Geschichtsbewusstsein als<br />

subjektive und ideologisch strukturierte Sonderform des Bewusstseins generiert, bestätigt und<br />

modifiziert Geschichtsbilder, welche in geschichtspolitischen Handlungen und Äusserungen<br />

<strong>zum</strong> Zwecke der Identitätsbildung und -vergewisserung sowie der Definition von grundlegenden<br />

Vorstellungen, Normen und Werten in einem politischen Verband instrumentell eingesetzt<br />

werden.<br />

Nach diesen terminologischen Ausführungen soll nun der <strong>Meienberg</strong>/Wille-Prozess mit einem<br />

kurzen Überblick über einige zentrale Merkmale der schweizerischen Gesellschaft und Politik<br />

während des Kalten Krieges in einen grösseren Kontext gestellt werden. 81 Anders als im übrigen<br />

Europa kam es in der Schweiz im Mai 1945 zu keinem politischen Erdbeben. Dennoch<br />

setzte ein sich seit 1943 abzeichnender Reformzyklus ein, der sich unmittelbar nach Kriegsende<br />

in heftigen Arbeitskämpfen und durchaus kontroversen Debatten über die Rolle der<br />

Schweiz im Zweiten Weltkrieg manifestierte. 82 Mit dem Beginn des Kalten Krieges 1947/48<br />

fand dieser Reformzyklus jedoch ein abruptes Ende. Im Angesicht des neuen äusseren Feindes<br />

wurden die geschichts- und gesellschaftspolitischen Debatten abgebrochen. Diese „innenpolitische<br />

Wende“ wurde begleitet von jener erst zu diesem Zeitpunkt sich durchsetzenden<br />

Sichtweise auf die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, die das schweizerische Geschichtsbild<br />

für Jahrzehnte prägen sollte: Die Schweiz hatte die als Bewährungsprobe verstandenen Jahre<br />

der nationalsozialistischen Bedrohung dank bewaffneter Neutralität und unerschütterlicher<br />

Standhaftigkeit überstanden. 83 Kernstück dieser Rede vom ‚Sonderfall Schweiz‘, welche auf<br />

78<br />

Lutz 2000: 66. Meine Hervorhebung.<br />

79<br />

Ebda, 24.<br />

80<br />

Ebda, 52-58.<br />

81<br />

Die Geschichtswissenschaft hat sich, so der Zeithistoriker Mario König, mit der Schweizer Geschichte der<br />

zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst in Ansätzen befasst. Als Literatur hinzugezogen wurden hier: Bretscher-Spindler<br />

1997; König, Mario 1998b: „Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Krisen, Konflikte,<br />

Reformen“, in: Manfred Hettling et al.: Eine kleine Geschichte der Schweiz. Der Bundesstaat und seine Traditionen,<br />

Frankfurt/M.., 21-90. Ders. 1999: „Rasanter Stillstand und zähe Bewegung. Schweizerische Innenpolitik<br />

im Kalten Krieg – und darüber hinaus“, in: Walter Leimgruber (Hg.): ‚Goldene Jahre‘. Zur Geschichte<br />

der Schweiz seit 1945, Zürich, 151-172. Gilg, Peter; Hablützel, Peter 1986: „Beschleunigter Wandel und<br />

neue Krisen (seit 1945)“, in: Geschichte der Schweiz und der Schweizer, Basel, 821-968. Gewissermas-sen<br />

als Beobachtungen eines qualifizierten ‚Augenzeugen‘: Salis, Jean Rudolf von 1968: „Schwierige Schweiz.<br />

Beiträge zu einigen Gegenwartsfragen“, Zürich.<br />

82<br />

König 1998b: 58-59. Kritik an der Schweiz wurde in dieser kurzen, offenen Phase nach dem Krieg sowohl<br />

von innen wie von aussen geäussert.<br />

83 König 1999: 158.<br />

17

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