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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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teren autobiografischen Passage deutlich: <strong>Meienberg</strong> interpretiert das schlechte Essen in den<br />

katholischen Klosterschulen als Teil einer umfassenden Abhärtungsstrategie, welche die<br />

Schüler zu den späteren, ‚höheren‘ Aufgaben wie beispielsweise der gefährlichen Mission in<br />

Afrika befähigen sollte: „Per aspera ad astra“ (B, 60). Persönliche Entsagung war das Lernziel,<br />

eine Priorisierung des Metaphysischen vor dem irdischen Genuss. <strong>Meienberg</strong> fügt dem<br />

Ess-Motiv wenig später noch eine weitere Komponente hinzu: Der eigentliche Grund für das<br />

schlechte Essen in der französischen Missionsschule war die Tatsache, dass die Schule für<br />

Bedürftige kostenlos war, dass also nur wenig Geld für die Ernährung der Zöglinge zur Verfügung<br />

stand: „darum das schlechte Essen“ (B, 63). Trotzdem war die Missionsschule eine<br />

Zeitlang sehr beliebt, da sie Aufstiegsmöglichkeiten für Angehörige der Unterschichten bot.<br />

Katholischen Missionaren war eine grosse soziale Anerkennung sicher. Es gelingt <strong>Meienberg</strong>,<br />

so lässt sich resümieren, anhand des scheinbar peripheren Ess-Motivs vom Textanfang wichtige<br />

Aussagen über den Katholizismus zu machen, der ja als zentrale Erklärungsgrundlage für<br />

seine Attentatsthese fungiert. Auf den ersten Blick abwegig, besteht nun ein evidenter kausaler<br />

Zusammenhang zwischen dem „Saufrass“ und dem Hitler-Attentat. Darüber hinaus kann<br />

das Essmotiv auch als ironischer Kommentar auf seine eigene Auseinandersetzung mit dem<br />

Katholizismus gelesen werden. <strong>Meienberg</strong> schreibt: „[...] Bernet hat seinen Mercerieladen in<br />

Estavayer-le-Lac und will nichts mehr von der Missions-Schule hören, die ihm den Magen<br />

verdorben hat, [...].“ (B, 66, m.H.) Dies ist eine schöne Metapher für seinen eigenen Zustand:<br />

Was ihm im Kloster Disentis zugeführt wurde, geistig, erscheint ihm heute ungeniessbar –<br />

nichtsdestotrotz hat ihn diese Zeit für sein ganzes Leben geprägt, der „Magen“ ist für immer<br />

„verdorben“.<br />

Der Übergang vom Paratext <strong>zum</strong> Textanfang sieht ihn Wille und Wahn so aus:<br />

Titel: Die Welt als Wille und Wahn.<br />

Untertitel: Elemente zur Naturgeschichte eines Clans.<br />

Textanfang: „Stellen wir uns vor –<br />

Clara Wille, geborene Gräfin von Bismarck, sitzt eines Morgens Anfang März an ihrem Schreibtisch<br />

oder steht an ihrem Schreibpult auf Mariafeld, dem exquisiten Landgut in Feldmeilen, überragt vom<br />

höchsten Baum am Zürichsee, der bekannten Platane, und denkt an ihren Mann, den General.“ (W, 7)<br />

Ebenso wie in Bavaud können hier Titel und Untertitel als thematisch bzw. rhematisch charakterisiert<br />

werden. Auf den Untertitel braucht hier nicht mehr näher eingegangen zu werden,<br />

die Parallelen zu Zolas Rougon-Macquarts-Zyklus wurden bereits im vorigen Kapitel erörtert.<br />

Festzuhalten bleibt, dass der Untertitel ein deutliches Lektüresignal für ein historiografisches<br />

Textverständnis darstellt, der Begriff der „Elemente“ aber gleichzeitig den essayhaften Charakter<br />

von <strong>Meienberg</strong>s Geschichtsschreibung akzentuiert. Der Titel verfügt über ein starkes<br />

Verführungspotenzial, da er eine quasi feststehende Wendung – den Titel von Schopenhauers<br />

Hauptwerk – mit einem auf Homonymie basierenden Wortspiel variiert. Sein deskriptiver<br />

Gehalt ist eher gering; und doch verdeutlicht er die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ausrichtung<br />

des Textes: Hier soll das Denken und die Vorstellungswelt einer sozialen Gruppe untersucht<br />

werden. 667 Von überragender Bedeutung für das ganze Buch ist der Textanfang:<br />

667 Entsprechend heisst die erste Kapitelüberschrift in Wille und Wahn: „Leben und Denken auf Mariafeld“.<br />

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