„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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vorgeschlagen. 577 Abduktive Kompetenz als kreative Entdeckungslogik wird in jüngster Zeit<br />
ausserdem als Beschreibungsansatz für die Rezeption von Hypertext verwendet. 578<br />
Anknüpfungspunkte für eine Operationalisierung des Abduktions-Begriffs in der Historiografie<br />
finden sich bereits bei Peirce selbst. Er nennt die historiografische Interpretation als Beispiel<br />
für die Abduktion. 579 Diese Spur hat der amerikanische Geschichtsphilosoph Arthur<br />
Danto aufgenommen und damit den Begriff der Abduktion in die Historiografie eingeführt. Er<br />
negiert die Möglichkeit einer „reinen Beschreibung“, z.B. in Form der Chronik, und betont<br />
mit dem Begriff der „wissenschaftlichen Imagination“ stattdessen die kreativen Aspekte der<br />
historischen Rekonstruktion. 580 Danto vergleicht dabei die historiografische Erzählung mit einer<br />
philosophischen Theorie und die Quellen, welche in dieser Erzählung benutzt werden, mit<br />
den Beweisen für eine derartige Theorie. Um zu zeigen, dass die historiografische Erzählung<br />
(bzw. die Theorie) von ihren Quellen (bzw. Beweisen) logisch verschieden ist, dass es also<br />
keine direkte Verbindung von den Quellen zur Darstellung gibt, wie es bei einer „reinen Beschreibung“<br />
der Fall sein müsste, nennt er das Verhältnis zwischen den Quellen und der daraus<br />
konstruierten Erzählung abduktiv: „Doch das Verhältnis zwischen einer Erzählung und<br />
den Materialien, die sie anfänglich dokumentieren, ist in einem den Schülern von Peirce vertrauten<br />
Sinne abduktiv.“ 581 Danto gebraucht den Begriff der Abduktion also, um die Tätigkeit<br />
des Historikers bei der Transformation seiner Quellen in eine Erzählung in genereller Art und<br />
Weise zu bezeichnen. Dieses Verständnis ist zwar nicht vollständig inkompatibel mit dem in<br />
dieser Arbeit vorgeschlagenen Ansatz, doch meiner Ansicht nach allzu pauschal; es hiesse das<br />
konstitutive divinatorische Element von Peirce’s Konzept zu unterschlagen, wollte man den<br />
zwangsläufigen Konstruktionscharakter jeder historiografischen Erzählung mit der Abduktion<br />
gleichsetzen. Ich möchte den Begriff der Abduktion deshalb auf jene spezifische Art des Ratens<br />
bzw. Mutmassens bei der historiografischen Rekonstruktion eines Ereigniszusammenhangs<br />
beschränken, die dann notwendig wird, wenn es gilt, ‚Lücken‘ in einer vorhandenen<br />
Dokumentation zu schliessen.<br />
Thesenartig möchte ich nun postulieren, dass in der europäischen, narrativ bzw. mikrohistorisch<br />
orientierten Geschichtsschreibung eine Traditionslinie existiert, die mit der Technik der<br />
Abduktion arbeitet, ohne diesen Begriff explizit zu verwenden. Es sind dies Autoren wie Carlo<br />
Ginzburg, Natalie Zemon Davis oder Georges Duby, auffälligerweise also alles Historiker<br />
und Historikerinnen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dies hat möglicherweise damit<br />
zu tun, dass sich für jene Zeitepoche die Quellenprobleme viel akuter stellen als in der Zeitgeschichte,<br />
was eine Reflexion über die Rolle der Fantasie in der Geschichtsschreibung begünstigt<br />
haben mag. Carlo Ginzburg – vielleicht eine der Schlüsselfiguren für das Verständnis von<br />
<strong>Meienberg</strong>s Arbeitsweise – schreibt in seinem Nachwort <strong>zum</strong> Buch der amerikanischen Histo-<br />
577<br />
Wille, Franz 1991: „Abduktive Erklärungsnetze. Zur Theorie theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse“,<br />
Frankfurt/M..<br />
578<br />
Wirth, Uwe 1999: „Wen kümmert’s, wer spinnt? Gedanken <strong>zum</strong> Schreiben und Lesen im Hypertext“, in:<br />
Beat Suter; Michael Böhler (Hg.): hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur, Basel<br />
etc., 29-42.<br />
579<br />
Richter 1995: 173.<br />
580<br />
Danto, Arthur C 1974: „Analytische Philosophie der Geschichte“, Frankfurt/M., 198.<br />
581 Ebda, 200.<br />
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