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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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genwart, der wohl im Bereich der Identität und des mit ihr eng zusammenhängenden Gedächtnisses<br />

zu lokalisieren wäre, andererseits lässt sich aus der Gleichsetzung von hineinschreiben<br />

und hineinschneiden auf seine Hoffnung und seinen Glauben schliessen, diesen<br />

‚mentalen Eiterherd‘ selbst entfernen zu können – eine fast schon religiöse Heilungsfantasie.<br />

<strong>Meienberg</strong> konzipiert ein invasives Schreiben, ein Ein-greifen und Operieren am Gesellschaftskörper:<br />

Der Eiter muss abszindiert, alles Schädliche herausgeschnitten werden. Beabsichtigte<br />

Wirkung ist dabei eine Besserung des aktuellen Zustandes, das Ingangsetzen eines<br />

Heilungsprozesses – Aufklärung als emanzipatorischer Prozess, als Befreiung von ‚falschem‘<br />

Glauben. Der Intellektuelle <strong>Meienberg</strong> versteht sich als Chirurg des gesellschaftlichen Bewusstseins.<br />

Die Schreibmaschine ist sein Skalpell, mit welchem er unerbittlich herausschneiden<br />

muss, was krankhaft ist. Um zwischen dem ‚guten‘ und dem ‚bösen‘ Gewebe unterscheiden<br />

zu können, benötigt er ein robustes, entscheidungsfähiges Wissen, das die Wirklichkeit zu<br />

durchdringen vermag. Darüber verfügte er in der hier diskutierten hauptsächlichen Schaffensperiode<br />

zweifelsohne. Anzeichen allfälliger Selbstzweifel findet man bei ihm in dieser Zeit so<br />

gut wie nie: Sein Markenzeichen war das unzweideutige Urteil. Wie sich <strong>Meienberg</strong> den von<br />

ihm anvisierten ‚Heilprozess‘ konkret vorstellte, kann vielleicht eine Bemerkung über einen<br />

Artikel des französischen Journalisten und Polit-Biografen Jean Lacouture illustrieren: „Man<br />

musste lachen und spürte zugleich Ekel aufsteigen: Die Farce war entlarvt.“ 280 Es ist der Gestus<br />

der Entlarvung, des ‚Maske runter!‘, der hier aufblitzt. Der Heilprozess muss dem kalten<br />

Lachen der Erkenntnis folgen.<br />

Das Entstehen dieses Selbstverständnisses, das <strong>Meienberg</strong> 1976 anlässlich des Schreibverbotes<br />

beim Zürcher „Tages-Anzeiger“ in der Retrospektive skizzierte, liest sich wie die klassische<br />

Genese eines Intellektuellen: „Es ist halt so, dass ich mein métier praktizieren wollte,<br />

und je gründlicher ich das tat, desto mehr Widersprüche in den Wörtern und in der Gesellschaft<br />

hab ich leider entdeckt. Ich hätte es ja auch gern schön und ruhig haben wollen im Leben,<br />

aber mein métier hat mich auf Abwege gebracht und unruhig gemacht.“ 281 Seine zentrale<br />

Diagnose für die Schweiz der Gegenwart ist die Existenz eines – ‚krankhaften‘ – „nationalen<br />

Systems der Verdrängung“, an welchem die Historiker seiner Meinung nach ebenso wie die<br />

Journalisten mitarbeiteten. 282 Das Land leiste sich einen kollektiven Gedächtnisverlust, konstatierte<br />

<strong>Meienberg</strong> 283 noch 1988, was nicht ohne Auswirkung auf die Gegenwart bleibe: „So<br />

leben wir glücklich und stets unbeschwert von Reminiszenzen in den Tag hinein, und weil wir<br />

bereits nicht mehr daran denken, dass Bundesrat von Steiger während des Zweiten Weltkrieges<br />

mit den Worten: ‚Das Boot ist voll‘ die Abweisung der Flüchtlinge an unsern Grenzen<br />

motivierte, können wir uns heute in Basel auf dem Rhein ein Boot nicht im übertragenen,<br />

sondern im eigentlichen Sinne leisten, und darauf werden Asylbewerber heute provisorisch<br />

kaserniert, bis es voll ist.“ 284<br />

280<br />

<strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: „Das Schmettern des gallischen Hahns“, Zürich 1987, 137. Dieser Text wird fortan<br />

mit der Sigle SG gekennzeichnet.<br />

281<br />

„Kurzer Prozess“.<br />

282<br />

<strong>Meienberg</strong>, <strong>Niklaus</strong>: „Aufforderung zur seriösen Erforschung der jüngsten schweizerischen Vergangenheit<br />

(1939-1945). Lesehilfe <strong>zum</strong> Bonjour-Bericht“, in: Die Schweiz, die wir wollen. Stimmen der jungen Generation,<br />

[Jahrbuch der Neuen Helvetischen Gesellschaft 43/1972], 170.<br />

283<br />

„Vorwärts zur gedächtnisfreien Gesellschaft!“, in: VT, 244.<br />

284 „Die Schonfrist“, in: VT, 139.<br />

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