„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Ansatzpunkt für <strong>Meienberg</strong>s schriftstellerische und publizistische ‚Eingriffe‘ war deshalb die<br />
Kritik an jenem in der Schweiz der 70er und 80er Jahre dominanten Geschichtsbild der widerstandsentschlossenen<br />
Schicksalsgemeinschaft, die den Zweiten Weltkrieg aufgrund des dissuasiven<br />
Potenzials ihrer Armee unbeschadet und schuldlos überstanden habe. Als Ansatzpunkt<br />
intellektueller Kritik eignete sich besagtes Geschichtsbild besonders gut, weil es als selektive,<br />
fixe und ideologisch determinierte Lesart der jüngsten schweizerischen Vergangenheit die aktuelle<br />
Identität entscheidend beeinflusste, das politische Handeln in der Gegenwart in zentralen<br />
Bereichen steuerte und damit als eigentliche Ursache der ‚pathologischen‘ Verdrängung<br />
gelten konnte. 285 Ein wichtiger Teil von <strong>Meienberg</strong>s intellektueller Arbeit lässt sich als das<br />
Beharren auf der Notwendigkeit einer schweizerischen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ verstehen.<br />
Mit der Forderung nach einer ‚heilsamen‘ Aufarbeitung der ‚zensierten‘ Vergangenheit<br />
akzentuierte er gleichzeitig die kritische Funktion der Geschichtsschreibung, die sie seiner<br />
Meinung nach haben musste. Dass er dabei auf heftigsten Widerstand stiess und während seiner<br />
Lebzeit letztlich ohne Erfolg blieb, 286 ist nicht verwunderlich, stellten doch seine Interventionen<br />
eine Einmischung in die bis anhin sehr erfolgreiche helvetische Geschichtspolitik dar.<br />
<strong>Meienberg</strong>s Kontrahenten waren „[...] sauertöpfisch-eifernde Ideologen der blockierten Bürgerlichkeit,<br />
heftige Streber, die trotz ihrer Jugend nicht mehr suchen müssen, sondern schon<br />
alles gefunden haben. Hier der Forscher, dort die Forschen. Hier die Gewissheit von Edgar<br />
Bonjour, dass die Schweiz eine unbewältigte Vergangenheit hat; dort die Behauptung, dass<br />
Vergangenheitsbewältigung nur ein Vorwand für Agitation sei.“ 287 Edgar Bonjour erwähnt<br />
<strong>Meienberg</strong> deshalb so positiv, weil sich dieser – wenigstens privat – auf eine Diskussion mit<br />
ihm über die schweizerische Vergangenheit eingelassen habe. 288<br />
Welche Wirkung hatte <strong>Meienberg</strong> mit seinen Texten im Visier? Er wollte „einen Aufruhr veranstalten,<br />
politisch eingreifen, anstrengende Wühlarbeit leisten“, 289 er wollte die „Gemüter<br />
aufwühlen, die Köpfe inspirieren“. 290 Das Ziel seiner Texte besteht darin, die Leser aufzurütteln.<br />
Ebenso wie Max Frisch wollte <strong>Meienberg</strong> in seinen Texten keine wohlfeilen Antworten<br />
geben, sondern quälende Fragen stellen, die <strong>zum</strong> Nach- und Umdenken anregen sollten. 291<br />
Die ideale Wirkung seiner letzten historischen Arbeit, Wille und Wahn, über deren Realisierbarkeit<br />
er sich aber keine Illusionen machen wollte, umschrieb er wie folgt: „Ich erhoffe mir<br />
davon, dass die Historiker sich vielleicht die Frage stellen werden: ‚Welche Geschichte<br />
schreiben wir denn?‘ Und weiter, dass auch die Geschichtslehrer sich fragen: ‚Welche Geschichte<br />
steht denn in den Geschichtsbüchern? Ich hoffe sehr, dass die Historiker sich die Do-<br />
285 Vgl. hierzu Kap. 2.1.1.<br />
286 Gemeint ist hier, dass <strong>Meienberg</strong> ohne ‚inhaltlichen‘ Erfolg blieb; das Geschichtsbild, das er zwanzig Jahre<br />
lange bekämpfte, erlitt seine mutmasslich endgültige Havarie erst drei Jahre nach seinem Tod. Über alle<br />
Lager anerkannt ist dagegen seine Leistung, lebhafte Debatten über Geschichte und Geschichtsbilder entfacht<br />
zu haben in der Öffentlichkeit. (Caluori 2000a, 207.)<br />
287 „Quellen, und wie man sie <strong>zum</strong> Sprudeln bringt“, in: <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>: Vorspiegelung wahrer Tatsachen,<br />
Zürich 1983, 143. Dieser Sammelband wird fortan mit der Sigle VW gekennzeichnet.<br />
288 E, 131; „Eine Lanze (oder eine Pinzette) gegen das fast food aus Hamburg“, in: WSp, 198. <strong>Meienberg</strong>s<br />
Einschätzung von Bonjour hat sich zwischen den 70er und 80er Jahren massiv verändert. Erschien er ihm<br />
1971, „französisches Mass auf den Basler Historiker applizierend“, noch wie die „Nachhut eines untergehenden<br />
saeculums“, so wuchs sein Respekt für ihn immer mehr, nachdem er die Beschaffenheit des übrigen „real<br />
existierenden schw. Historiker-Universums“ zur Kenntnis genommen hatte. („Bonjour Monsieur“, in: VT,<br />
240.)<br />
289 „Kurzer Briefwechsel, Clio zu Ehren“, in: VT, 256.<br />
290 „Kein schöner Land“, in: VT, 258.<br />
291 Rüegg 1997: 113.<br />
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