„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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Text <strong>Meienberg</strong>s auch eine Art allgemeine Reflexion über die Rolle der Subjektivität in der<br />
Geschichtsschreibung dar.<br />
Die vierte Erzählebene in Bavaud ist die autobiografische. <strong>Meienberg</strong> operiert damit bereits in<br />
Ernst S., aber nur punktuell (E, 55). Für das Textganze von Ernst S. fällt das autobiografische<br />
Moment nicht ins Gewicht. Anders hier: Die persönliche Erinnerung an die Internatszeit im<br />
Kloster Disentis dienen in insgesamt drei Erzählsequenzen dazu, den geistigen und kulturellen<br />
Hintergrund Bavauds zu ergründen und die hermeneutische Technik der Empathie zu legitimieren,<br />
da sowohl <strong>Meienberg</strong> wie der Protagonist seiner Untersuchung (Bavaud) in katholischen<br />
Klosterinternaten zur Schule gingen. Hierin unterscheidet sich <strong>Meienberg</strong>s Bavaud-<br />
Darstellung zentral von derjenigen des Zürcher Historikers Klaus Urner, 637 der das Umfeld<br />
und die Geschichte des Attentäters – anders als <strong>Meienberg</strong> dies behauptet – ebenfalls mit Oral<br />
History erforscht hat, damit aber am Ende der geschichtswissenschaftlichen Quellenerhebungs-<br />
und Erklärungsmöglichkeiten angelangt ist. Urners Untersuchungen sind akribisch,<br />
noch viel umfassender als die ebenfalls aufwändigen Recherchen <strong>Meienberg</strong>s. 638 Doch die autobiografische<br />
Erklärungsebene <strong>Meienberg</strong>s bleibt dem ‚Fachhistoriker‘ Urner verschlossen.<br />
Dass <strong>Meienberg</strong> vor Genre-Grenzen nicht halt machte, wenn ihm die Übertretung einen Gewinn<br />
an Erklärungspotenzial versprach, ist kennzeichnend für seine schillernde, essayistische<br />
Prosa. Die autobiografische Ebene ist eines jener Elemente, die seine Texte im Vergleich mit<br />
‚fachwissenschaftlichen‘ Publikationen als reich erscheinen lassen. (Auto-) Biografisches Material<br />
in Form von Briefen und Postkarten seines Vaters verwendet <strong>Meienberg</strong> auch in Wille<br />
und Wahn, jedoch zu einem ganz anderen Zweck als hier. Dies wird weiter unten gezeigt.<br />
Die fünfte und sechste Erzählebene in Bavaud sind kontextuell definiert: Es ist einerseits der<br />
erweiterte historische Kontext rund um Bavauds Attentat, der wohl in jeder historiografischen<br />
Darstellung zu finden wäre, und es ist andererseits <strong>Meienberg</strong>s allgemeine, essayistische Darstellung<br />
des Katholizismus bzw. der Geschichte und Kultur der katholischen Mission, die weder<br />
zur Handlungsebene von Bavauds Geschichte noch zu <strong>Meienberg</strong>s autobiografischen Erinnerungen<br />
noch <strong>zum</strong> direkten historischen Kontext des Attentates gehört. Ebenso wie die autobiografische<br />
Ebene setzt <strong>Meienberg</strong> diese Erzählebene dazu ein, Bavauds kulturelle Prägung<br />
zu ergründen, aus welcher er dann seine eigene, nach wie vor plausible Attentatsthese<br />
ableitet: Er bringt die Bereitschaft zur Selbstaufopferung mit dem Märtyrerkult der katholischen<br />
Mission in Verbindung. 639<br />
Zusammenfassend kann die narrative Makrostruktur von Bavaud als Ensemble von knapp drei<br />
Dutzend kleinen bis kleinsten Erzählsequenzen charakterisiert werden, die sich auf sechs verschiedenen,<br />
stellenweise in einer einzigen Erzählsequenz synthetisierten Erzählebenen bewegen<br />
und über einen komplex strukturierten chronologischen Handlungsablauf verfügen. Präg-<br />
637<br />
Urner, Klaus 1980: „Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien <strong>zum</strong> Widerstand und seinen Grenzbereichen“,<br />
Frauenfeld etc.<br />
638<br />
Urners Text schildert das familiäre Umfeld und die Zeit in Frankreich gründlicher, solider als derjenige<br />
<strong>Meienberg</strong>s. Dennoch bezieht Urner das Milieu nicht in seine Erklärungen ein und begründet das ganze Attentatsvorhaben<br />
rein psychologisch, indem er Bavaud zu einer Art ferngesteuerten Automaten seines – ebenfalls<br />
hingerichteten – Freundes Marcel Gerbohay macht. Urner beharrt auf dieser monokausalen „Folie-àdeux“-These<br />
auch in ders.: „Ein Schweizer Held oder zwei Opfer der Nazijustiz? Zum Gedenken an Maurice<br />
Bavaud und Marcel Gerbohay“, Neue Zürcher Zeitung, 7.11.1998.<br />
639<br />
Der Vorteil von <strong>Meienberg</strong>s These liegt in ihrer relativen Offenheit: Während Urner mit seiner Fixierung<br />
auf die abstrusen Handlungsmotive seiner „Folie-à-deux“-These <strong>Meienberg</strong>s These vollständig ausschliesst,<br />
ist <strong>Meienberg</strong>s These mit einem allfälligen nicht-rationalen, konkreten Tatmotiv durchaus kompatibel.<br />
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