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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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tung ging von einer dualistischen Spaltung der Schweiz in Anpasser und Widerstandsentschlossene<br />

aus. Wichtige Autoren wie der England-Schweizer Jon Kimche, 111 welche die Debatte<br />

ausgelöst hatten, bewerteten dabei den Bundesrat als anpasserisch und nachgiebig gegenüber<br />

den Pressionen der Achsenmächte, während General Guisan und mit ihm die Armeeführung<br />

für erbitterten Widerstand stand. Ansatzweise ist in diesem Konzept die moralisierende<br />

Geschichtsbetrachtung bereits enthalten, welche sich in den 90er Jahren definitiv durchsetzen<br />

sollte. Die Gegenpartei, zu welcher der einflussreiche NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher<br />

gehörte, wollte die Differenz von Anpassung und Widerstand dagegen nicht unter dem<br />

Aspekt der Gesinnung, sondern ausschliesslich als Frage der staatspolitischen Taktik betrachten,<br />

nach dem Motto: Was zählt, ist einzig, dass die Schweiz überlebte. Mit dieser Perspektive<br />

ging das Postulat eines grundsätzlichen Patriotismus einher, wonach moralisch niederträchtige<br />

Handlungen als unschöne Mittel einer ansonsten legitimen nationalen Selbsterhaltungsstrategie<br />

zu betrachten waren.<br />

Die Geschichtsdebatte der 70er Jahre begann mit der Diskussion des Bonjour-Berichts, 112<br />

wobei die beiden alten Meinungslager im Wesentlichen unverändert fortbestanden. Eine signifikant<br />

neue, langfristig wirksame und dem Selbstverständnis der sogenannten Aktivdienstgeneration<br />

fundamental entgegengesetzte Perspektive eröffnete der damals 20jährige Christoph<br />

Geiser: Die wirklichen Motive für die „Kriegsverschonung“ der Schweiz, schrieb er in<br />

einem Artikel der Zeitschrift „Neutralität“ 1970, seien nicht auf der militärisch-neutralitätspolitischen<br />

Ebene zu suchen, sondern in den wirtschaftlichen Beziehungen <strong>zum</strong> Dritten<br />

Reich. 113 Die Schweizer Armee wäre nicht in der Lage gewesen, das Land wirksam zu verteidigen,<br />

so Geiser, und der militärische Überfall sei nur deshalb ausgeblieben, weil die Schweiz<br />

als Deutschlands wichtigstes wirtschaftliches Reservoir funktioniert habe. 114 Die Einschätzungen<br />

über das dissuasive Potenzial der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg blieben jedoch<br />

bis Ende der 70er Jahre kontrovers, die Debatte wandte sich erneut der Rolle der Hauptprotagonisten,<br />

Guisan und Pilet-Golaz, zu, wobei – anders als in der Forschung – an der Dualismus-These<br />

festgehalten wurde. Diese hatte nämlich den Vorteil, die mögliche moralische<br />

Fallhöhe der Nation von vornherein zu begrenzen: Mochte auch das Ausmass der Anpassung<br />

und der Kreis der Anpasser grösser sein, als bisher vermutet, so blieb doch weiterhin gesichert,<br />

dass die Mannschaft der ‚Helden‘ und Widerstandsentschlossenen immer noch gross<br />

genug bleiben würde.<br />

Die von Christoph Geiser akzentuierte Bedeutung der ökonomischen Kooperation der<br />

Schweiz mit den Achsenmächten sollte <strong>Niklaus</strong> <strong>Meienberg</strong>s Konzeption der Weltkriegszeit<br />

beeinflussen. Er legte mit seiner 1975 in den Reportagen aus der Schweiz publizierten Grossreportage<br />

Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. eine gleichsam klassenkämpferische<br />

111 Kimche brachte mit seinem Buch über die Tätigkeit der Nachrichtendienste in der Schweiz die erste<br />

schweizerische Geschichtsbild-Debatte ins Rollen. (Kimche, Jon 1961: „Spying for Peace. General Guisan<br />

and Swiss Neutrality“, London.)<br />

112 Auf <strong>Meienberg</strong>s gescheiterten Versuch, eine öffentliche Debatte über Resultate und Implikationen des<br />

Bonjour-Berichts zu entfachen, wird weiter unten noch näher eingegangen.<br />

113 Geiser, Christoph 1970: „Der Anschluss fand statt. Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“, in: neutralität.<br />

Kritische Zeitschrift für Schweizer Politik und Kultur 8/1, 19-29.<br />

114 Der Dienstverweigerer Geiser wollte mit dieser These beweisen, dass die Existenz einer Schweizer Armee<br />

nicht weiter zu rechtfertigen sei. Er hat mit seiner radikalen Infragestellung der Dissuasionswirkung der Armee<br />

einen wichtigen Argumentationsstrang der Gruppe-für-eine-Schweiz-ohne-Armee (GSOA) -Initianten<br />

aus den 80er Jahren vorweggenommen. (Vgl. zu Geiser auch Kreis 1992: 381)<br />

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