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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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Die Heterogenität des ‚Sprachmaterials‘ hob <strong>Meienberg</strong> denn auch bei Joyce hervor: „Lateinisch<br />

hat er gut gekonnt, griechisch auch, [...], frz., dt., i. auch, [...]. Dann Volkslieder und<br />

Schlager, alles was sich reimt und frisst, Hüt dich schönes Blümelein James pflückt alles Joyce<br />

frisst alles botanisiert brutalisiert die seltensten Wörter. Zärtlicher Brutalnik, frisst unter<br />

dem Hag hindurch. Schnapp!“ 496 Der Wille <strong>Meienberg</strong>s, vom klassischen Bildungsgut bis zur<br />

ordinären Alltagssprache die ganze Bandbreite zu nutzen, was an Motiven und Lexik 497 verfügbar<br />

war, wurde bereits anlässlich der Reportagen aus der Schweiz, konstatiert – und teilweise<br />

auch verurteilt. Der Zürcher Mediävist Marcel Beck schrieb in seiner Rezension zu diesem<br />

Buch: „In dieser darmstädtischen Produktion wimmelt es von Schilderungen über Geschehnisse<br />

unterhalb der Gürtellinie des Menschen, sowohl in erotischer wie in fäkalischer<br />

Beziehung. [...] Ich gestehe: in meiner Erziehung lag die Grenze des Anstandes zwischen<br />

‚brünzle‘ und ‚brünnele‘, welch letzteres gerade noch gestattet war.“ 498 Die Werte der bürgerlichen<br />

Wohlanständigkeit war <strong>Meienberg</strong> jedoch zu ignorieren entschlossen: Was gesagt wurde,<br />

sollte auch geschrieben werden können, wenn es die entsprechende ästhetische Funktionszuweisung<br />

verlangte; und das konnte auch ganz direkt Provokation sein. Das „Prinzip der Heterogenität“,<br />

die Konfrontation von inhaltlich und sprachlich äusserst verschiedenartigen<br />

Elementen ist übrigens auch ein entscheidendes Strukturmerkmal der Geschichte der Liebe<br />

und des Liebäugelns 499 und kann damit wohl als eines derjenigen Charakteristika identifiziert<br />

werden, die <strong>Meienberg</strong>s Gesamtwerk prägen.<br />

Hinter dem Goût für derbe kolloquiale Ausdrücke verbarg sich wiederum ein Konzept, das<br />

<strong>Meienberg</strong> in die Formel „Klassenkampf in der Sprache“ fasste. Eine eindeutige Definition<br />

dessen, was der „Klassenkampf“ (in) der Sprache zu bedeuten habe, hat er nie gegeben; und<br />

besonders vage bleibt sein Verständnis des marxistischen Terminus „Klassenkampf“ selbst.<br />

Es lassen sich zwei grundsätzliche Verwendungsweisen dieser Formel beobachten. 500 Einerseits<br />

meinte <strong>Meienberg</strong> damit ‚aktiven‘ Klassenkampf mittels der Sprache: „Versuchen, die<br />

Sprache wieder zurückzuerobern, die verwaltet wird von Leuten, die nichts mit uns zu tun haben,<br />

die offensichtlich schädlich sind für uns. Diese Anstrengung findet bei jedem Adjektiv<br />

statt, beim Rhythmus eines Satzes, den du anders machst als die Reklamesprache oder die abgenutzte<br />

Zeitungssprache.“ 501 Diese Verwendungsweise der Formel kann in etwa mit dem<br />

weiter oben beschriebenen, an Joyce orientierten Verständnis von Sprach-Politik in Form einer<br />

subversiven Sprache umschrieben werden. Dahinter steckt die Vorstellung, dass die<br />

Sprach-Ordnung in einer Gesellschaft auch deren erwünschte Denk-Ordnung produziere. 502<br />

496 „Joy Joint“, in: VW, 105-106.<br />

497 In seiner Verteidigungsschrift „Kurzer Prozess“ fordert <strong>Meienberg</strong> das Recht, die ganze sprachliche<br />

Bandbreite einsetzen zu dürfen; er möchte nicht bloss „die Schattierungen grau, dunkelgrau und aschgrau benützen<br />

dürfen, sondern auch rot und schwarz und bei wirklich jungfräulichen Zuständen auch mal weiss.“<br />

498 Beck 1975.<br />

499 Zesiger 1998: 73.<br />

500 Ricker-Abderhalden differenziert diese beiden Verwendungsweisen in ihrem Aufsatz nicht näher. (Ricker-<br />

Abderhalden 1987: 162).<br />

501 Lerch/Sutter 1984: 60.<br />

502 Vgl. hierzu auch Niederberger 1984: 50. Niederberger erwähnt <strong>Meienberg</strong>s sprachkritisches Vorgehen,<br />

ohne die Klassenkampf-Formel zu erwähnen. Und er begreift die Verwendung idiomatischer Ausdrücke<br />

ebenfalls als Mittel der Sprachkritik, im Sinne eines Unterlaufens ‚korrekter‘ Redewendungen; dies im Gegensatz<br />

zu dieser Arbeit, in welcher die idiomatischen Ausdrücke hauptsächlich unter dem Aspekt des Ikonismus<br />

betrachtet werden.<br />

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