„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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„Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt<br />
werden.“ 234<br />
Hier ist er, der „Tod der Literatur“. Oder doch nicht? Enzensberger hat sich später gegen die<br />
Behauptung verwahrt, er hätte 1968 den „Tod der Literatur“ verkündet. „In Wirklichkeit handelte<br />
der Aufsatz von einer ganz anderen Frage, nämlich davon, dass die meisten Schriftsteller,<br />
wie andere Leute auch, das Bedürfnis haben, gesellschaftlich sinnvolle Sachen zu produzieren,<br />
dass aber für rein literarische Produkte ein solcher gesellschaftlicher Sinn sich nicht<br />
mehr nachweisen lässt“, rechtfertigte er sich 1979 in einem Gespräch mit Alfred Andersch. 235<br />
Für diejenigen Schriftsteller, fährt der Meister-Essayist fort, welche sich „mit ihrer Harmlosigkeit<br />
nicht abfinden können, und wieviele werden das sein? [...]“ 236 habe er, offenbar selbst<br />
ein wenig erschrocken ob der Rigidität seines Urteils, bloss einige „dürftige Vorschläge“ zu<br />
machen. Er empfiehlt, eine angemessene Beurteilung der eigenen Bedeutung vorzunehmen<br />
und die literarische Arbeit vermehrt an der Kategorie des Nutzens zu orientieren. Die Namen<br />
Börne und Luxemburg fallen, unter den zeitgenössischen Autoren erweist er unter anderem<br />
Wallraff, Runge und Ulrike Meinhof die Reverenz: <strong>„Den</strong> Nutzen solcher Arbeiten halte ich<br />
für unbestreitbar.“ 237 Also Reportagen, publizistische Interventionen, Dokumentarliteratur.<br />
Trotz dem weiter oben befohlenen Beharren auf der künstlerischen Souveränität ist Enzensberger<br />
bereit, allfällige literarische Qualitätseinbussen „solcher [operativer] Arbeiten“ zu verzeihen,<br />
indem sie grosszügig nicht auf „Talentfragen“ reduziert, sondern den „Produktionsverhältnissen<br />
der Bewusstseinsindustrie“ zugeschrieben werden. 238<br />
Der Schriftsteller, fordert Enzensberger, soll die Grenzen des Kulturgettos <strong>zum</strong> Zweck der<br />
„politischen Alphabetisierung Deutschlands“ überschreiten. Er soll nach dem Gebrauchs-,<br />
nicht dem Marktwert seiner Arbeit fragen, soll in ein reziprokes Verhältnis mit seinem unscharf<br />
als „Leser“ definierten Publikum treten und bereit sein, von diesem zu lernen. Nur so<br />
erfahre er, was er sich statt „blöder Rezensionen“ eigentlich wünschen müsste: „[...] Korrekturen,<br />
Widerstände, Beschimpfungen, Gegenbeweise, mit einem Wort: Folgen.“ 239 Da er jedoch<br />
zuvor die Möglichkeit genuin revolutionärer Literatur geleugnet hat, ist es nur folgerichtig,<br />
wenn Enzensberger den logischen Schlusspunkt, auf den sein schüchtern operatives Literaturkonzept<br />
zusteuert, verschweigt: Das explizite Postulat der Gesellschaftsveränderung unterbleibt,<br />
die grundlegende Skepsis gegenüber der kulturrevolutionären Zuversicht von 1968,<br />
die sich an zahlreichen Stellen deutlich manifestiert, behält die Oberhand. „Die Folgen sind<br />
bruchstückhaft und vorläufig. Sie sind vereinzelt. Aber es besteht kein prinzipieller Grund dafür,<br />
dass sie es so bleiben müssten.“ 240 In diesem Satz drückt sich der ganze unüberwindliche<br />
Zweifel eines Autors aus, der seinen Literaturbegriff politisieren, sich den Herausforderungen<br />
seiner Zeit stellen möchte, im Grunde aber ausserstande ist, sich den blinden Optimismus der<br />
Revolutionäre anzueignen. Enzensberger hat selbst keine Dokumentarliteratur im engeren<br />
234 Enzensberger 1968: 195.<br />
235 Zitiert nach Schnell 1993: 390.<br />
236 Enzensberger 1968: 196.<br />
237 Ebda.<br />
238 Ebda.<br />
239 Ebda, 197.<br />
240 Ebda, 197.<br />
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