„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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lemischen Abduktion nicht, was Wille II wirklich geträumt hat, und auch nicht, welche Widmung<br />
wirklich in jenem Buch stand. Wichtig ist in diesen beiden ‚Abduktionen‘ einzig, dass<br />
mit ihnen die nationalsozialistische Gesinnung des Generalssohns kräftig herausgestrichen<br />
werden kann. In analoger Weise dient die komische Abduktion nicht dazu, die Wahrheit herauszufinden<br />
über die Art und Weise, wie der General zu Pferde gestiegen ist. Die vermeintliche<br />
‚Mutmassung‘ wird einzig dazu eingesetzt, das Alter und das Übergewicht des Generals<br />
zu bespotten. Die mangelnde Plausibilität der kontrafaktischen Abduktion schliesslich gibt<br />
<strong>Meienberg</strong> selbst zu. Er benutzt sie ausschliesslich dazu, die empörenswerte Denkart des Generals<br />
hervorzuheben. Keine der hier genannten Pseudoabduktionen zielt direkt auf eine Vergangenheitsrekonstruktion<br />
mit Wahrheitsanspruch. Ihr Funktionen sind rhetorisch, spielerisch,<br />
unterhaltend.<br />
Der zweite grundlegende Abduktionstypus in <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten nenne ich die<br />
komplexe historiografische Abduktion. Sie ist gekennzeichnet durch ihre transphrastische<br />
Grösse einerseits, durch ihre extra- und intratextuellen Plausibilisierungsverfahren andererseits.<br />
Komplexe historiografische Abduktionen, zu welchen mir keine Parallelen in anderen<br />
Werken der Geschichtsschreibung bekannt sind, 676 gibt es in <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten<br />
zwei; beide finden sich in Wille und Wahn. Die erste umfasst 6 ½ Textseiten und befindet<br />
sich am unmittelbaren Textanfang (W, 7-16). Auf den epistemologischen Signalcharakter des<br />
anfänglichen „Stellen wir uns vor –“ wurde bereits hingewiesen. Zugleich indiziert diese<br />
Wendung innerhalb von <strong>Meienberg</strong>s Semiotik der Verbindlichkeitsunterschiede auch eine geringere<br />
Referentialität als diejenige eines „vielleicht“ oder eines „vermutlich“. Interessant ist,<br />
dass <strong>Meienberg</strong> in dieser ersten komplexen historiografischen Abduktion nur ihre Begrenzung,<br />
Anfang und Schluss, markiert: „Stellen wir uns vor – “ und „Voilà!“. Die beiden „vielleicht“,<br />
die sich in dieser Abduktion finden (W, 10,11), gehören nicht zu ihr selbst, sondern<br />
<strong>zum</strong> Gedankenzitat 677 bzw. zur erlebten Rede 678 der Figur Clara Wille. Dasselbe gilt für zahlreiche<br />
andere Heckenausdrücke (z.B.„wohl“), so dass man sehr genau untersuchen muss, auf<br />
welche Ebene – diejenige der Abduktion oder diejenige der Gedanken der Figur in ihr – sie<br />
sich beziehen. Nun verzichtet <strong>Meienberg</strong> zwar auf erneute Markierungen des Abduktionsstatus‘<br />
in der Abduktion selbst, doch wendet er andere Mittel an, um ein Abgleiten des Leser in<br />
eine fiktionale Lesart zu verhindern. Er schreibt: „[...] sitzt eines Morgens Anfang März an ihrem<br />
Schreibtisch oder steht an ihrem Stehpult [...].“ (W, 7, m.H); „Sorgsam ordnet die Generalin<br />
die alten Briefe wieder in den Stapel auf ihrem Schreibtisch ein, und sozusagen flugs<br />
kommt das Dienstmädchen hereingetrippelt, [...].“ (W, 13, m.H.); „Die delikate Greisin seufzt<br />
und steckt ihren Zwicker, oder ist es ein Lorgnon, zurück ins Futteral.“ (W, 15, m.H.). Mit<br />
676 Aber ich habe nicht speziell danach gesucht – es würde sich mit Sicherheit lohnen, dieser Frage etwas<br />
mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es geht mir bei dieser Aussage darum, zu betonen, dass Davis und<br />
Ginzburg sich auf die einfache historiografische Abduktion beschränken.<br />
677 Ein „Gedankenzitat“ ist eine kürzere Darstellung von Gedanken einer Figur in direkter Rede, die durch ein<br />
verbum dicendi oder credendi eingeleitet wird. (Martinez/Scheffel 1999: 189.) Beispiel: „Der brünstige Abbé,<br />
sinniert jetzt die Herrin auf Mariafeld, wie war der doch hinter ihr her gewesen in ihrer Jugend Maienblüte,<br />
[...].“ (W, 7.)<br />
678 Als „erlebte Rede“ wird die Darstellung einer ausgesprochenen oder nur gedachten Figurenrede in der 3.<br />
Person, Präteritum, Indikativ, ohne einleitendes verbum dicendi oder credendi bezeichnet. (Martinez/Scheffel<br />
1999: 187.) Beispiel: „Wo bloss der Pöstler bleibt? Die schweizerischen Beamten waren zwar recht zuverlässig,<br />
aber zu einer echt königlich-preussischen Pünktlichkeit hatten sie es noch nicht gebracht, die schlampigen<br />
Demokraten.“ (W, 11.)<br />
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