29.08.2013 Aufrufe

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

lemischen Abduktion nicht, was Wille II wirklich geträumt hat, und auch nicht, welche Widmung<br />

wirklich in jenem Buch stand. Wichtig ist in diesen beiden ‚Abduktionen‘ einzig, dass<br />

mit ihnen die nationalsozialistische Gesinnung des Generalssohns kräftig herausgestrichen<br />

werden kann. In analoger Weise dient die komische Abduktion nicht dazu, die Wahrheit herauszufinden<br />

über die Art und Weise, wie der General zu Pferde gestiegen ist. Die vermeintliche<br />

‚Mutmassung‘ wird einzig dazu eingesetzt, das Alter und das Übergewicht des Generals<br />

zu bespotten. Die mangelnde Plausibilität der kontrafaktischen Abduktion schliesslich gibt<br />

<strong>Meienberg</strong> selbst zu. Er benutzt sie ausschliesslich dazu, die empörenswerte Denkart des Generals<br />

hervorzuheben. Keine der hier genannten Pseudoabduktionen zielt direkt auf eine Vergangenheitsrekonstruktion<br />

mit Wahrheitsanspruch. Ihr Funktionen sind rhetorisch, spielerisch,<br />

unterhaltend.<br />

Der zweite grundlegende Abduktionstypus in <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten nenne ich die<br />

komplexe historiografische Abduktion. Sie ist gekennzeichnet durch ihre transphrastische<br />

Grösse einerseits, durch ihre extra- und intratextuellen Plausibilisierungsverfahren andererseits.<br />

Komplexe historiografische Abduktionen, zu welchen mir keine Parallelen in anderen<br />

Werken der Geschichtsschreibung bekannt sind, 676 gibt es in <strong>Meienberg</strong>s historischen Arbeiten<br />

zwei; beide finden sich in Wille und Wahn. Die erste umfasst 6 ½ Textseiten und befindet<br />

sich am unmittelbaren Textanfang (W, 7-16). Auf den epistemologischen Signalcharakter des<br />

anfänglichen „Stellen wir uns vor –“ wurde bereits hingewiesen. Zugleich indiziert diese<br />

Wendung innerhalb von <strong>Meienberg</strong>s Semiotik der Verbindlichkeitsunterschiede auch eine geringere<br />

Referentialität als diejenige eines „vielleicht“ oder eines „vermutlich“. Interessant ist,<br />

dass <strong>Meienberg</strong> in dieser ersten komplexen historiografischen Abduktion nur ihre Begrenzung,<br />

Anfang und Schluss, markiert: „Stellen wir uns vor – “ und „Voilà!“. Die beiden „vielleicht“,<br />

die sich in dieser Abduktion finden (W, 10,11), gehören nicht zu ihr selbst, sondern<br />

<strong>zum</strong> Gedankenzitat 677 bzw. zur erlebten Rede 678 der Figur Clara Wille. Dasselbe gilt für zahlreiche<br />

andere Heckenausdrücke (z.B.„wohl“), so dass man sehr genau untersuchen muss, auf<br />

welche Ebene – diejenige der Abduktion oder diejenige der Gedanken der Figur in ihr – sie<br />

sich beziehen. Nun verzichtet <strong>Meienberg</strong> zwar auf erneute Markierungen des Abduktionsstatus‘<br />

in der Abduktion selbst, doch wendet er andere Mittel an, um ein Abgleiten des Leser in<br />

eine fiktionale Lesart zu verhindern. Er schreibt: „[...] sitzt eines Morgens Anfang März an ihrem<br />

Schreibtisch oder steht an ihrem Stehpult [...].“ (W, 7, m.H); „Sorgsam ordnet die Generalin<br />

die alten Briefe wieder in den Stapel auf ihrem Schreibtisch ein, und sozusagen flugs<br />

kommt das Dienstmädchen hereingetrippelt, [...].“ (W, 13, m.H.); „Die delikate Greisin seufzt<br />

und steckt ihren Zwicker, oder ist es ein Lorgnon, zurück ins Futteral.“ (W, 15, m.H.). Mit<br />

676 Aber ich habe nicht speziell danach gesucht – es würde sich mit Sicherheit lohnen, dieser Frage etwas<br />

mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es geht mir bei dieser Aussage darum, zu betonen, dass Davis und<br />

Ginzburg sich auf die einfache historiografische Abduktion beschränken.<br />

677 Ein „Gedankenzitat“ ist eine kürzere Darstellung von Gedanken einer Figur in direkter Rede, die durch ein<br />

verbum dicendi oder credendi eingeleitet wird. (Martinez/Scheffel 1999: 189.) Beispiel: „Der brünstige Abbé,<br />

sinniert jetzt die Herrin auf Mariafeld, wie war der doch hinter ihr her gewesen in ihrer Jugend Maienblüte,<br />

[...].“ (W, 7.)<br />

678 Als „erlebte Rede“ wird die Darstellung einer ausgesprochenen oder nur gedachten Figurenrede in der 3.<br />

Person, Präteritum, Indikativ, ohne einleitendes verbum dicendi oder credendi bezeichnet. (Martinez/Scheffel<br />

1999: 187.) Beispiel: „Wo bloss der Pöstler bleibt? Die schweizerischen Beamten waren zwar recht zuverlässig,<br />

aber zu einer echt königlich-preussischen Pünktlichkeit hatten sie es noch nicht gebracht, die schlampigen<br />

Demokraten.“ (W, 11.)<br />

141

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!