„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg
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tik am Objektivitätsdogma begriff dabei diese deklarierte Subjektivität als Form einer höheren<br />
Objektivität, die glaubwürdiger und authentischer sein sollte. 260 „The performing self“ im<br />
Text kann auf der anderen Seite aber auch als Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung,<br />
der Individualisierung, gelesen werden. Herausragendes Exempel einer extremen Selbstbezogenheit<br />
innerhalb des New Journalism ist Tom Wolfe, der mit seiner sprachlichen Pyrotechnik<br />
seine Einzigartigkeit zelebrierte und dafür regen Applaus erntete. 261 Grundsätzlich kann gesagt<br />
werden, dass es diese Richtung eines journalistisch orientierten New Journalism ist, welche<br />
auch konzeptuell viele Gemeinsamkeiten mit <strong>Meienberg</strong>s Schreibweise birgt.<br />
Der literarische New Journalism verfügt über eine eigene Gründungslegende, die Tom Wolfe<br />
gestiftet hat: Ihm zufolge entwickelte er sich aus dem Wettbewerb einer Gruppe aggressiver<br />
New Yorker Journalisten zu Beginn der 60er Jahre, die um den inoffiziellen Titel des „best<br />
feature writer in town“ konkurrierten. Der Begriff Feature bezeichnete dabei sehr vage das<br />
Gebiet jenseits der „hard facts“. 262 Unbeachtet aller Stilisierungen 263 lassen sich von diesem<br />
Ausgangspunkt her einige grundlegende Bemerkungen anbringen. Erstens: Um all die schillernden<br />
Facetten rund um die „hard facts“ eruieren zu können, die einem guten Feature erst<br />
seine Farbigkeit und seinen Unterhaltungswert garantierten, war „legwork“ notwendig, d.h.<br />
aufwändige, oft tagelange Recherche vor Ort. Das besondere Augenmerk galt dabei denjenigen<br />
Ereignissen und Bemerkungen, die „off the record“ stattfanden. Nur über sie war die angestrebte<br />
Tiefe und Mehrdimensionalität der Darstellung erreichbar. Wolfe nennt diese Art<br />
der Recherche „saturation reporting“: Der Reporter benötigt ein „sättigendes“ Level an Sinneseindrücken,<br />
Beobachtungen und Dokumenten, um eine gute Geschichte schreiben zu können.<br />
Mit diesem Postulat einer gründlichen Recherche wurde gleichzeitig auch eine Debatte<br />
über die „Materialbeschaffung“ in der Literatur lanciert, die bisher als unproblematisch galt,<br />
da der alleinige Akzent auf Form und Stil gelegen hatte. 264 Zweitens: Der Wettbewerb um das<br />
beste Feature war ein Wettbewerb um den besten, ausgefallensten Text. Ziel und Referenzpunkt<br />
in Fragen des künstlerischen Anspruchs ist für den literarischen New Journalism der<br />
belletristische Roman. Wolfes Denken ist in seinem ‚Manifest‘ von 1973 allgemein sehr hierarchisch<br />
geprägt: Immer geht es darum, die pauschal als ‚Neo-Fabulisten‘ bezeichneten Literaten<br />
von ihrem belletristischen Thron zu stürzen. Drittens: Die neuen gesellschaftlichen Phänomene,<br />
Moden und Konflikte, welche die 60er Jahre prägten, bilden für den literarischen<br />
New Journalism in Wolfes Verständnis nichts weiter als ein hervorragendes ‚Material‘ das<br />
den Romanautoren weggeschnappt werden konnte; den Romanautoren, welche nach Wolfe ob<br />
des raschen gesellschaftlichen Wandels eine gewisse Zeit lange Mühe bekundeten, ihr literarisches<br />
Selbstverständnis wiederzuerlangen: „The New Journalists [...] had the whole crazed<br />
260 Hollowell 1977: 22.<br />
261 Weber 1974: 21. Eine andere Ausprägung dieser extremen Subjektivität vertrat John Merrill, der mit seinem<br />
Programm eines „existential journalism“ in der Essenz eine philosophisch angehauchte Form journalistischer<br />
Selbstverwirklichung propagierte: Der zunehmenden Entfremdung in den Medienhäusern sollte der<br />
subjektive Selbstausdruck der Journalisten zu neuer Authentizität des Lebens verhelfen – welche Themen<br />
dies tangierte, war völlig gleichgültig. (Merrill, John C. 1996: „Existential Journalism“, Ames.) Auch Merrill<br />
wird im Zusammenhang mit dem New Journalism genannt.<br />
262 Wolfe/Johnson 1973: 5.<br />
263 Ähnliche Formen wurden zur gleichen Zeit auch in anderen amerikanischen Städten entwickelt.<br />
264 Diese Forderung koinzidiert mit <strong>Meienberg</strong>s Forderung nach einer soliden Faktenbasis als Grundlage<br />
plausibler Fiktion. (vgl. Kap. 3.3.3.3.)<br />
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