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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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können.<br />

Das „Prinzip der Heterogenität“, in Kap. 3.3.2. bereits als Charakteristikum von <strong>Meienberg</strong>s<br />

Sprachgebrauch und –begriff erwähnt, ist ein entscheidendes Merkmal auch der schriftlichen<br />

dokumentarischen Grundlagen, auf welchen seine historiografische Prosa basiert. Nebst den<br />

‚Standard-Quellen‘, amtlichen Dokumenten und Zeitungsberichten, arbeitet <strong>Meienberg</strong> in<br />

Ernst S. und Bavaud auch mit Festschriften und internen Publikationen von Industriebetrieben.<br />

Und dann gibt es jenen ‚atmosphärischen‘ Rest, den er auf seiner Recherche auffängt und<br />

in die Texte einmontiert, für den keine unmittelbare Funktion angezeigt werden könnte: die<br />

Giebelinschrift der ersten Erziehungsanstalt von Ernst S. (E, 39); die Inschrift eines Wegkreuzes<br />

bei Notkersegg, St. Gallen (E, 80); die Wandinschriften im Führerbunker-Museum Berchtesgaden<br />

(B, 20); eine Aufstellung der bei einem Antiquar gefundenen wichtigsten Titel aus<br />

dem Nachlass der Schlossbibliothek von La Touche-Milon (B, 75-76), die zusammenhangslosen<br />

Sprüche auf der Wand einer Berliner Gefängniszelle (B, 121); das Sprach-Vademecum<br />

der Deutschschweizer Soldaten für den Tessin-Einsatz im Ersten Weltkrieg (W, 61-62). Diese<br />

bizarren Trouvaillen und Merkwürdigkeiten gehören <strong>zum</strong> Reichtum von <strong>Meienberg</strong>s Prosa.<br />

Und wenn sie auch keine direkte Funktion haben, weder als Kontrast noch als Kommentar<br />

dienen, so handelt es bei ihnen dennoch um bewusst eingesetzte narrative Elemente, die dazu<br />

beitragen, spezifische Stimmungen zu produzieren oder atmosphärische Eindrücke zu dokumentieren.<br />

Ein letztes Merkmal von <strong>Meienberg</strong>s historiografischer Prosa – insbesondere der beiden polemischen<br />

Texte Ernst S. und Wille und Wahn – ist schliesslich die grosse Variationsbreite der<br />

Erzählgeschwindigkeit. 659 Sie erhält einen eigenen Rhythmus durch den häufigen Wechsel<br />

von szenischem und zeitraffendem Erzählen. Ein Beispiel hierfür ist das zweite Kapitel inWille<br />

und Wahn, das mit einer präzisen Gesichtsbeschreibung des St.Galler Bundesrates Hoffmann<br />

beginnt – d.h. mit einer zeitdehnenden Passage –, dann die Erzählgeschwindigkeit etwas<br />

erhöht beim Bericht über die Taten des Generals, und plötzlich, in einem elliptischen<br />

Satz, sämtliche Kritikpunkte am Verhalten des Generals kondensiert. Diese grosse Spannbreite<br />

der Erzählgeschwindigkeit charakterisiert den Erzählrhythmus von <strong>Meienberg</strong>s Prosa und<br />

ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer literarischen Qualität.<br />

659 Unter dem Begriff der Erzählgeschwindigkeit verstehe ich das Verhältnis der Dauer der Erzählzeit zur er-<br />

zählten Zeit (Martinez/Scheffel 1999: 40.)<br />

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