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„Den Abszess zum Platzen bringen“ - Niklaus Meienberg

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iff bezeichnet werden muss: Es ist die Idee einer Kongruenz von signifiant und signifié. Die<br />

Gestalt der Sprache, so <strong>Meienberg</strong>s Vorstellung, soll die geschilderten Zustände abbilden. 477<br />

Ich werde dieses Konzept mit dem in der linguistischen Textanalyse gebräuchlichen Begriff<br />

der ikonischen Sprachverwendung bzw. des Ikonismus bezeichnen. 478 Eine ikonische Sprachverwendung,<br />

dies soll hier gleich vermerkt werden, ist tendenziell inkompatibel mit einem<br />

wissenschaftlichen Sprachverständnis, welches in der Regel eine möglichst klaren Trennung<br />

von Objektsprache und Metasprache anstrebt. 479 Es gibt jedoch bedeutende Historiker wie den<br />

französischen Mediävisten Georges Duby, die eine ähnliche Ansicht wie <strong>Meienberg</strong> vertraten.<br />

Auf die Frage, ob er mit dem spezifischen Rhythmus seiner Texte ein „stilistisches Äquivalent“<br />

für den Inhalt zu geben versuche, ob er sich also für jeden historischen Gegenstand um<br />

den ihm angemessenen Stil bemühe, antwortet Duby: „Ja, das glaube ich. Wie ich auch glaube,<br />

dass ich eine Ereignisgeschichte nicht im selben Stil schreiben würde wie ein Strukturgeschichte.<br />

Denn es gibt eine dem Prickeln der Ereignisse angemessene Erzählweise [...]. Eine<br />

bestimmte Ebene des Zeitablaufs verlangt nach einem bestimmten Ton, und nach keinem anderen.“<br />

480 Duby geht wie <strong>Meienberg</strong> davon aus, dass jeder historische Inhalt seine spezifische<br />

Sprache verlangt und lehnt damit genau wie dieser eine wissenschaftliche Metasprache ab, die<br />

auf sämtliche Gegenstände applizierbar wäre.<br />

<strong>Meienberg</strong> illustrierte seine Konzeption des Ikonismus an einem Artikel von Haller über Zürich,<br />

den dieser für den „Spiegel“ geschrieben hatte. Wo über das Leid der Zürcher Fixer am<br />

„Platzspitz“ geschrieben würde, verlangte er, müsse sich auch die Sprache „sträuben [...] und<br />

aufständisch werden ob der von ihr beschriebenen Misere“ 481 Und wenn „gegen die zwanghafte<br />

Normierung des Lebens in Zürich“ geschrieben werde, könne das nicht „im normiertesten<br />

aller denkbaren Stile“ – der „Spiegel“-Sprache – erfolgen, da sonst Signifikat und Signifikant<br />

allzu weit auseinanderklafften. 482 In die gleiche Richtung zielt <strong>Meienberg</strong>s Kritik an Otto<br />

F. Walters Buch Das Staunen des Schlafwandlers am Ende der Nacht, dem er ebenfalls eine<br />

Dissoziation von Inhalt und Form vorwarf: „Immerhin entdecken sie dann ganz in der urnerischen<br />

Höhe ein Hotel, wo sie die einzigen Gäste sind, immer höher geht es hinauf, man<br />

merkt: jetzt soll die Stimmung unheimlich werden in dieser Bergeinsamkeit, aber das Unheimliche<br />

(shining!) kommt und kommt nicht, weil die Sprache nicht unheimlich ist, [...].“ 483<br />

Es gäbe zahlreiche Beispiele, um <strong>Meienberg</strong>s Kunst einer Art osmotischen Annäherung von<br />

Signifikat und Signifikant zu demonstrieren. Ein einziges, meiner Meinung nach besonders<br />

477<br />

„Paar Thesen“.<br />

478<br />

Ikone werden in der Linguistik diejenigen Klassen von visuellen oder akustischen Zeichen genannt, die in<br />

unmittelbar wahrnehmbarer Beziehung zur bezeichneten Sache stehen, indem sie Aspekte des realen Objekts<br />

abbildhaft imitieren und dadurch eine Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit von Merkmalen aufweisen. Der Ikonismus<br />

ist ein im Rahmen der Semiotik entwickeltes Konzept der Textinterpretation, das sich auf die Übereinstimmung<br />

von Eigenschaften der Darstellung mit Eigenschaften des Dargestellten stützt. („Ikon“ bzw.<br />

„Ikonismus“, in: Lexikon der Sprachwissenschaft 1990.)<br />

479<br />

Diesen metasprachlichen Ort des Sprechens, der in der Wissenschaft gepflegt wird, lehnte <strong>Meienberg</strong> ab:<br />

Der Autor darf seiner Meinung nach nicht über der Sache stehen, da sonst auch die Menschen „versachlicht“<br />

würden. („Eine Lanze“,in: WSp, 200.)<br />

480<br />

Duby/Lardreau 1982: 50.<br />

481<br />

„Eine Lanze“, in: WSp, 200.<br />

482<br />

„Paar Thesen“. Das „Auseinanderklaffen“ von Signifikat und Signifikant hat <strong>Meienberg</strong> auch an der Geschichtswissenschaft<br />

kritisiert ( Bernasconi 1987). Er übersieht dabei, dass er seine ästhetischen und operativen<br />

Ansprüche unreflektiert auf die Historiografie überträgt: Der Intellektuelle <strong>Meienberg</strong> und die akademische<br />

Geschichtsschreibung können aber nicht automatisch dieselben Ziele haben.<br />

483<br />

„Ein Werkstattbesuch“, in: WSp, 77.<br />

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